Handicap-Fußball: Interview mit Experte Nico Kempf

Nico Kempf
Nico Kempf arbeitete als Inklusionsbeauftragter für den Bayerischen Fußball-Verband. Foto: Boran & Parot UG

Handicap-Fußball. Während seines Studiums der Sportökonomie an der Universität Bayreuth (Masterabschluss) war Nico Kempf zusätzlich als Inklusionsbeauftragter des Bayerischen Fußball-Verbandes tätig. Im Gespräch erzählt er, welche Formen von Handicap-Fußball bestehen und welche Chancen der Sport für Vereine bietet…

Herr Kempf, wie sind Sie zum Handicap-Fußball gekommen?

Während meines Studiums hat in Bayreuth die Deutsche Meisterschaft für intellektuell beeinträchtigte Menschen stattgefunden. Damals hat mich ein Freund gefragt, ob ich dort bei der Organisation mithelfen möchte. Er hat zu dieser Zeit in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Wir meinten, dass das eine klasse Sache für mich wäre – auch, um Praxiserfahrungen zu sammeln. Ich konnte das im Rahmen eines Praktikums beim Deutschen Behinderten-Sportverband machen. Damals habe ich sofort gesagt, „ok, das mach ich“ und wurde gleich von den Emotionen gefesselt. Dieser ehrliche Sport, diese Freude – das fand ich toll. So bin ich erstmals zum Behindertenfußball gekommen. 2012 habe ich ein Praktikum (in einem anderen Bereich) beim Bayerischen Fußball-Verband gemacht. Im Nachgang wurde im Rahmen der Inklusionsinitiative der DFB-Stiftung Sepp Herberger eine Stelle des Inklusionsbeauftragten geschaffen, die auf mich einen ganz besonderen Reiz ausübte.

Welche Aufgaben hatten Sie als Inklusionsbeauftragter?

Letztendlich war ich der Ansprechpartner für verschiedene Anspruchsgruppen des Landesverbandes für alle Fragen zum Thema Behindertenfußball, vor allem natürlich für die bayerischen Fußballvereine. Beispielsweise ist es oft so, dass Eltern wissen wollen, wo und ob ihr Kind mitspielen kann. Hierbei tauchten viele Fragen auf. Da galt es die Angst zu nehmen und passgenaue Angebote für die Fußballer mit Handicap zu finden. Zudem hatte ich die Aufgabe, eigene Projekte zu schaffen, um die Beteiligten für die Thematik zu sensibilisieren. Als Best-Practice-Beispiel dient die Durchführung der bayernweiten Informationstage im Handicap-Fußball. Unser Ziel war es, aktiv auf die Vereine zuzugehen bzw. sie an den runden Tisch zu holen, zu begeistern, zu informieren, aufzuklären. Wir haben zudem einen Inklusions-Cup durchgeführt. Die Arbeit war sehr, sehr facettenreich. Auch die Öffentlichkeitsarbeit war wichtig. Das Thema war bzw ist noch sehr jung und deshalb gab es äußerst viele verschiedene Aufgaben.

 Was waren die Highlights in Ihrer Zeit als Handicap-Beauftragter?

Am tollsten fand ich die Turniere, welche ich mitorganisiert habe. Das alles hautnah mitzuerleben. Ich erinnere mich gerne an ein Inklusionsturnier zurück, als ein Kind mit Down-Syndrom ein Tor geschossen hat und in einen riesen Jubel ausgebrochen ist. Es hat seinen Lieblingsspieler beim Jubeln nachgemacht. Da habe ich echt Gänsehaut bekommen. Das sind einfach Erlebnisse, die fesseln. Das ist das allerschönste.

Wie haben sich die Angebote im Behindertenfußball in den vergangenen Jahren entwickelt?

Die Entwicklung war enorm, zum Beispiel bei den Inklusionsteams. Da waren es im Jahr 2012 sechs Mannschaften und jetzt sind es knapp zwanzig. Die Anzahl der Teams nimmt stark zu, auch weil das Thema Inklusion durch Bewegungen in der Gesellschaft großen Rückenwind bekommt – beispielsweise durch die UN-Behindertenrechtskonvention. Zudem erkennen die Vereine vermehrt, welche Chancen dahinterstecken und öffnen zunehmend ihre Strukturen für Menschen mit Handicap. Dennoch gibt es noch sehr viel Luft nach oben. Die Zukunft sieht aber sehr gut aus.

Wo lagen die größten Schwierigkeiten bei Ihrer Arbeit?

Zum einen war es eine stetige Herausforderung, die Vereine dafür zu begeistern, zu sensibilisieren. Wir haben versucht, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen und die Menschen zu emotionalisieren und mitzunehmen. Ein Trainer braucht beispielsweise auch ein gewisses pädagogisches Geschick, wenn er eine Mannschaft leiten oder führen will. Ich meine aber, letztendlich ist es auch nur Fußball.

 

Zum Verhalten der Eltern und Trainer

Wie reagieren die Eltern, wenn ihre Kinder mit Handicap im Verein spielen wollen?

Vereinzelte Eltern trauen ihrem Kind das Fußballspielen unter dem Dach eines Fußballvereins nicht zu. Diesen Personenkreis galt es zu motivieren und ihnen die Angst zu nehmen, die sich aber häufig auch schnell von alleine auflöste sobald sie sahen, mit welcher Freude und mit welchem Eifer ihr Kind bei der Sache ist. Der Großteil der Eltern ist sehr offen und dankbar, wenn sich die Vereine mit ihren Strukturen für Menschen mit Handicap öffnen. Wenn ich jetzt weiterdenke, ist das auch eine große Chance für die Vereine, weil die Eltern begeistert sind, wenn ihr Kind in einem Club spielen kann. Dann engagieren sie sich meist stark, weil es für sie wirklich „ihr“ Verein ist, der dem Kind geholfen hat. Wir haben ihnen oft gesagt: „Traut das euren Kindern zu, die können das!“. Und wie gesagt – wenn sie ihren Kindern beim Kicken zusehen, ist die Skepsis komplett vergessen und sie freuen sich unheimlich.

War es schwer, die Trainer vom Wettkampfprinzip wegzubringen?

Sie verstehen sehr schnell, dass der Leistungsgedanke da gar nicht so essenziell ist, sondern, dass es wirklich um den Spaß am Sport geht. Das heißt: Die Trainer, die Inklusionsmannschaften betreuen, wissen zum Großteil schon, worum es da geht. Man muss sie ab und an bremsen, ja. Natürlich gibt es auch Trainer, für welche das Siegen auch wichtig ist – das ist es für viele Kinder übrigens auch. Aber bei Turnieren gibt es zumeist einen sogenannten Ethikkodex. Das ist ein Kodex, an dem sich die Trainer orientieren. Darin ist zum Beispiel festgelegt, dass das Miteinander im Vordergrund steht. Das bedeutet: Wenn eine Mannschaft stark dominiert, soll der Trainer die sehr starken Spieler auswechseln. Denn wenn Kinder mit und ohne Handicap zusammen spielen, sind oftmals große Leistungsunterschiede vorhanden. Darauf muss man natürlich eingehen. Das klappt allerdings immer ganz gut. Ich finde es auch besonders schön, weil beide Seiten über den Sport hinaus voneinander lernen können: Durch das Akzeptieren der Stärken und Schwächen ihrer Mitspieler erlangen Kinder mit und ohne Handicap beispielsweise bestimmte Sozialkompetenzen, die auch einen positiven Einfluss auf ihre Persönlichkeitsentwicklung haben.

Wie schnell finden Menschen mit Behinderung in den Sport hinein, wenn Sie jetzt den Blindenfußball als Beispiel nehmen?

Blindenfußball ist eine unheimlich harte Sportart, die eine gewisse Robustheit von den Spielern erfordert. Man muss ganz klar sagen, dass nicht jeder blinde oder sehbehinderte Mensch direkt Blindenfußball spielen kann und will. Es ist nur ein kleinerer Teil, der sich zutraut, diese faszinierende Sportart auszuüben. Das Spiel ist sehr körperbetont, da rumpelt es schon mal auf dem Platz. Dementsprechend muss man viele verschiedene technische, physische und psychische Fertigkeiten mitbringen, um dem rasselnden Ball hinterherjagen zu können. Im Alltag sind viele Menschen auf ihren Blindenstock angewiesen, beim Blindenfußball bewegen sie sich frei auf dem Feld. Das ist natürlich eine riesen Chance und für manche auch ein gewisser Kick. Ich erinnere mich an einen Spieler, der zu mir sagte, dass der Sport genau das richtige für ihn sei, weil er dabei diese Freiheit auf dem Platz spüren könne.

Woran können Nichtbehinderte teilnehmen, wenn sie mit Menschen mit Handicap zusammen Fußball spielen wollen?

An allen Facetten des Handicap-Fußballs können grundsätzlich auch Nichtbehinderte teilnehmen, dies ist sogar ausdrücklich gewünscht. Durch verschiedene Anpassungsmöglichkeiten kann fast jede Handicap-Fußballform inklusiv gestaltet werden. Auch der Blindenfußball ist übrigens ein Vorbild in Sachen Inklusion. Neben dem sehenden Torwart sind auch die sehenden Guides am Spielfeldrand wesentliche Säulen der Mannschaft.

Wenn ein Kind mit Behinderung mit Nichtbehinderten Fußball spielen möchte, jedoch Defizite in der Schnelligkeit etc. aufweist, wie kann ein Verein dann eine „gerechte Teilnahmemöglichkeit“ für das Kind schaffen?

Ein Schlüssel liegt in der Steuerung des Trainings. Der Trainer ist dafür verantwortlich, dass jeder Spieler unabhängig seiner Fähigkeiten gefordert, aber nicht überfordert wird. Hierfür kann sich der Trainer diverse methodische Stellschrauben zu Nutze machen. Darüber hinaus gibt es auch die Option, dass man von der Rückstellungsmöglichkeit der Landesverbände Gebrauch macht, wenn das Kind am herkömmlichen Spielbetrieb teilnehmen will und sich aufgrund seiner Behinderung in einer jüngeren Altersklasse besser aufgehoben fühlt. Man muss hierbei jedoch auch ganz klar betonen, dass ein Kind nicht automatisch schlechter spielt, weil es eine Behinderung hat – ganz im Gegenteil – auch im Behindertenfußball gibt es Leistungssport. Es gibt viele Sportler, die beispielsweise intellektuell beeinträchtigt und zugleich sehr gute Fußballer sind. Das sieht man insbesondere, wenn man sich die Auswahlteams der Bundesländer anguckt. Soviel zunächst zur Integration in herkömmliche Teams. Wenn diese nicht möglich ist und die Kinder und Jugendlichen trotzdem innerhalb eines Vereins Fußball spielen wollen, dann wäre die Gründung einer Inklusionsmannschaft die passende Alternative. Von diesen Inklusionsteams, das sind Teams bestehend aus Kindern und Jugendlichen mit und ohne Handicap, existieren in Bayern knapp zwanzig. Sie nehmen zumeist nicht am herkömmlichen Spielbetrieb teil, sondern spielen häufig unter sich Turniere aus. Sie nehmen am BFV-Inklusions-Cup (der nächste findet am 9.7. in Bayreuth statt; Anm. von Lisa Schatz) teil und trainieren häufig einmal pro Woche bzw. alle zwei Wochen. Das ist ganz unterschiedlich. Beim Training steht der Spaß am gemeinsamen Sport treiben im Vordergrund und weniger der Leistungsgedanke. Wer sich dafür interessiert, der kann sich unter der Rubrik handicap-fussball auf dfb.de oder bei den Inklusionsbeauftragten der Landesverbände darüber informieren, welche Vereine diese Form des Fußballs anbieten.

-> COMING SOON… Im zweiten Teil des Interviews (erscheint am 23.5.) erzählt Nico Kempf, welche Erfahrungen er als Nicht-Behinderter beim Handicap-Fußball gemacht hat und welche Chancen Inklusionsteams für die Vereine bieten…