Interview mit Kim Krämer und Uli Hofmann vom FC Bayern-Fanclub Rollwagerl 93 e.V.

In der aktuellen Ausgabe des BBAG-Magazins habe ich einen Artikel über den Rollwagerl 93 e.V. veröffentlicht. Da die Themen „behindertenfreundliche Stadionausstattung“ und „Tickets für Fans mit Behinderung“ sehr bedeutend und vielseitig sind, habe ich mich entschieden, noch ein ausführliches Interview mit dem aktuellen und ehemaligen Fanclub-Vorsitzenden Kim Krämer und Uli Hofmann zu führen. Im Folgenden erfahrt ihr also noch mehr über den Rollwagerl 93 e.V….

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Kim Krämer (l.) und Uli Hofmann sprachen mit mir über den Rollwagerl 93 e.V. und darüber, was andere Bundesligisten bzgl. ihrer behindertengerechten Stadioneinrichtung noch verbessern können. Foto: Lisa Schatz

Lisa Schatz: Servus Kim und Uli, in eurem zweiten Zuhause, der Allianz Arena. Bitte beschreibt zunächst einmal euren Fanclub. Was zeichnet den Rollwagerl 93 e.V. aus?

Kim Krämer: Unser Fanclub ist wie eine Familie. Man ist mittendrin statt nur dabei. Bei uns ist es so: Wenn jemand etwas machen will, dann versuchen wir, denjenigen ins Boot zu holen. Ersen Tekin, unser TV-Melder, wollte etwas machen. Wir haben also eine Seite auf unserem Internetauftritt installiert, auf der er eingeben kann, wann und wo die Spiele des FC Bayern bzw. deren Zusammenfassungen übertragen werden. Zudem sind wir einer der zwei größten Behinderten-Fußballfanclubs in Europa. Der MUDSA (Manchester United Disabled Supporters‘ Association) hat aktuell (Stand: 10.02.2019) auch ca. 900 Mitglieder.

Uli Hofmann: Der Rollwagerl 93 e.V. ist eine wichtige Ergänzung in der Fanszene und für den FC Bayern an sich, weil die Damen und Herren dort nicht wissen können, worauf es ankommt. Wenn irgendetwas gemacht werden muss, was die Rollstuhlfahrer betrifft, kannst du fragen, wen du willst beim FC Bayern: Jeder verweist mittlerweile auf uns. Da halten sie sich komplett raus. Das ist ein guter Vertrauensbeweis.

Lisa Schatz: Könntest du bitte ein konkretes Beispiel nennen, um das den Leser*innen genauer zu verdeutlichen, Uli?

Uli Hofmann: Bis hin zum Klopapier haben wir uns um alles gekümmert. Diese Haltebügel links und rechts an den Behindertentoiletten mit dem angebauten Klorollenhalter haben den Vorteil, dass sie mit einer einzigen Hand bedient werden können, ohne dass das Papier herunterfällt und wegrollt. Diese Klorollenhalter wurden angebracht, da manche Menschen mit Behinderung Einschränkungen in der Fingerfunktion haben. Zwischendurch wurden große „Turborollen“ verwendet, wie sie auf den Standard-Toiletten üblich sind. Diese zeichnen sich jedoch durch einen großen Durchmesser und passen nicht auf diese speziellen Klorollenhalter. Diese Rollen kann man auf den gängigen Toiletten hernehmen, nicht aber auf den Behindertentoiletten. Die zuständigen Bediensteten haben anfangs gefühlte sieben Kilometer abgerollt, bis die jeweilige Rolle zunächst darauf passte. Das nutzte aber nichts, weil die inliegende Papprolle einen größeren Durchmesser hatte als die Steckvorrichtung. Somit konnten die Menschen mit der entsprechenden Einschränkung das Klopapier nicht einhändig abrollen. Außerdem fiel die Rolle mangels Halt ständig auf den Boden. Wir haben dann erfolgreich das Gespräch mit den Entscheidungsträgern gesucht. Heute wird nur noch geeignetes Klopapier (d.h. Standard-Rollen) dafür verwendet.

Lisa Schatz: Wie ist es mit den anderen Stadien?

Kim Krämer: Mit der „Toilette für alle“ sind in Deutschland nur die Allianz Arena, die Wirsol Rhein-Neckar-Arena und die Mercedes-Benz Arena ausgestattet. Wichtig für uns ist natürlich auch die Sicht aufs Spielfeld und die Anzahl der Plätze. In Hoffenheim beispielsweise wäre eigentlich alles in Ordnung, aber dort sitzen Menschen direkt vor dir. Sie stehen oft auf und dann sieht man nichts mehr. Ein großes Problem ist zudem: Wenn bei Auswärtsfahrten die zehn-Prozent-Regel gilt, dann stünden uns in Hoffenheim nur vier Tickets zu. Deshalb müssen wir immer mit dem jeweiligen Behindertenfanbeauftragten sprechen, ob man nicht noch Tickets dazu nehmen kann. Es wäre schließlich schwierig, eine Fahrt mit einem Reisebus zu machen, und nur vier oder fünf Rollifahrer mitnehmen zu können. Da ist Berlin natürlich erste Sahne. Im dortigen Olympiastadion sind alle Rollstuhlfahrerplätze im Block der Gastmannschaft. Das heißt, da bekommt Bayern dann an die 30. Berlin ist für uns also immer ganz toll. Dorthin haben wir schon Fahrten mit zwei Reisebussen gemacht. Die Planung ist immer enorm aufwendig für vier Tage. Auch finanziell, wo wir inzwischen ein super Netzwerk zu Sponsoren und zum Sozialreferat aufgebaut haben. Der FC Bayern und die Allianz Arena sowie der AUDI-Fanclub FC Bayern und Rehability sponsern uns. Zudem zahlt unser langjährigster und größter Unterstützer Raimond Aumann auch noch einen Bus. In einen Bus passen zehn bis elf Rollifahrer, je nachdem, wie er ausgestattet ist.

Uli Hofmann: In Bezug auf die Sicht aufs Feld sind wir in München wirklich Vorreiter.

Wenn man nach Dortmund blickt: Dort wurde immer wieder nachgerüstet. Zum Beispiel für die WM 2006. Damals wurden neue VIP-Zonen und eine neue Ebene für die Presseplätze errichtet. Aber für Rollstuhlfahrer ist immer alles gleich geblieben. Das Stadion hat 81.000 Sitzplätze, davon sind 72 Rolliplätze. Das sind weniger als 0,1 Prozent. Ein Armutszeugnis.

Oder auch Schalke. Das Stadion in Gelsenkirchen ist noch relativ neu. Darin sieht ein Rollifahrer aber nichts, wenn die Fans vor ihm aufspringen. Es herrscht nach wie vor sehr viel Nachholbedarf, egal, wohin man blickt.

Lisa Schatz: Wie sieht es mit Hoffenheim aus?

Uli Hofmann:. Dort ist die Situation ähnlich wie in Berlin. Obwohl Dietmar Hopp sozial engagiert ist und auch eine Stiftung hat, wurde beim Neubau des Stadions einiges versäumt: Man sieht auch hier nichts vom Spielgeschehen, wenn die Zuschauer vor einem kollektiv aufspringen! Bei unserer ersten Auswärtsfahrt dorthin habe ich nichts vom Tor gesehen. Wenn da ein Tor gefallen ist, und die Fans vor mir aufgesprungen sind, habe ich nur den Jubel gehört. Ich war total frustriert. Beim nächsten Mal hat deren Behindertenbeauftragter persönlich mit den Fans in der Reihe vor uns Kontakt aufgenommen und sie gebeten, sitzen zu bleiben, damit wir etwas sehen. Das hat sehr gut funktioniert.

Lisa Schatz: Lasst uns zu eurem Fanclub kommen. Wer kann bei euch Mitglied werden und wie funktioniert das?

Kim Krämer: Bei uns kann jeder Mitglied werden, inzwischen sogar online. Man kann eine Online-Maske ausfüllen und ist dann direkt im System registriert. Im Anschluss erhält man eine Benachrichtigung per E-Mail.

Lisa Schatz: Nun zu eurem Ticketingsystem. Wie wurden die Tickets früher vergeben und wie hat sich das Ganze entwickelt?

Kim Krämer: Unser Fanclub wurde ja auf Grund der schlechten Kartenverteilung gegründet. Das erste Ticketingsystem von Peter Czogalla war rein telefonisch. Das war eine Katastrophe für seine Frau, weil das Telefon den ganzen Tag klingelte. 2005 hat Uli Hofmann den Vereinsvorsitz und das Ticketing übernommen. Er hat eingeführt, dass die Bestellung der Tickets nur noch per Anrufbeantworter, Fax, E-Mail und Post läuft. Ich habe das Ganze dann 2008 fortgeführt. Zunächst habe ich nichts verändert,  dann jedoch an einem Konzept gearbeitet, dass wir online und automatisiert Tickets anbieten können. Das steht jetzt. Wir sind nun der erste Fanclub eines Bundesligisten, der Online-Ticketing speziell für Menschen mit Behinderung anbietet. Auch keiner der Bundesligavereine selbst macht dies.

Lisa Schatz: Wie läuft euer Online-Ticketing im Detail ab?

Kim Krämer: Die Bestellfrist startet einen Monat vor dem Spieltag und endet zwei Wochen vor dem Spieltag. In diesen zwei Wochen kann man sich online bewerben.  Wer Mitglied ist, muss einfach auf unsere Ticketingseite gehen, dort seinen Namen und seine Mitgliedsnummer eingeben. Wenn man seine Bestellung abgeschickt hat, erhält man direkt im Browser eine Nachricht: „Ihre Auftragsnummer ist XY. Sie werden rechtzeitig informiert“. Der Kunde sitzt am PC, schickt seine Bewerbung ab, und wir haben zeitgleich die Anfrage als Kundenauftrag im System. In dem Ticketingsystem „add on“ von SAP Business One, das 5.500 € gekostet hat, sind alle Heimspiele verzeichnet mit jeweils 50 Tickets auf der Ost- und auf der Westseite in der Allianz Arena. Ich kann diese dann zuweisen und sehe direkt, ob jemand die letzten drei Heimspiele schon gesehen hat, oder zwei davon. Umso mehr jemand von den vergangenen drei Heimspielen gesehen hat, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass derjenige eine Absage für das folgende bekommt. Hat man im vergangenen Spiel eine Absage erhalten, ist es in der Regel so, dass man für das darauf folgende Spiel wieder eine Zusage bekommt. Es sei denn, es geht auf das Ende des Jahres zu, und Dortmund und Real Madrid spielen beispielsweise hintereinander in der Allianz Arena. Die Karten für diese Gegner sind sehr gefragt. Dann kann es passieren, dass jemand zwei Absagen hintereinander erhält. Das System wird sehr gut angenommen: Aktuell kommen noch ca. fünf Bestellungen pro Spiel per E-Mail, der Rest macht alles online.

Lisa Schatz: Wie viele Anfragen habt ihr in etwa pro Spiel vorliegen und wie viele Plätze könnt ihr vergeben?

Kim Krämer: Wir sind immer ausgebucht. Sollten einmal nicht alle Tickets an unsere Mitglieder vergeben worden sein, so stehen wir mit Einrichtungen in Kontakt, von deren Seite Interesse besteht, und an die wir die Tickets dann verteilen. Insgesamt gibt es in der Allianz Arena 227 Plätze für Menschen mit Behinderung. Davon hat der Rollwagerl-Fanclub 100. Den Rest verwaltet der FC Bayern.

Lisa Schatz: Unternehmt ihr auch Fahrten zu Auswärtsspielen?

Kim Krämer: Wir versuchen immer, wenn es finanziell machbar ist, mehrtägige Auswärtsfahrten zu machen und im Rahmen der Reisen ein Kulturprogramm anzubieten. Das ist uns sehr wichtig: Nicht nur Fußball, sondern auch Kultur. Wir haben Mitglieder, die im Heim wohnen, in der Lebenshilfe. Für sie sind die Fahrten von großer Bedeutung, um aus ihrem Alltag und der Isolation herauszukommen, und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Auf den Fahrten können sie sich gemeinsam freuen und auch zusammen trauern. Das ist zudem ein prägender Punkt hinsichtlich unserer Gemeinnützigkeit. Allein durch die Vergabe von Heimspieltickets wird man nicht gemeinnützig, sondern wegen solchen Auswärtsfahrten.

Lisa Schatz: Wo wart ihr bislang und wie lief das Ganze ab?

Kim Krämer: Unsere erste inklusive Auswärtsfahrt haben wir nach Hoffenheim gemacht. Zuvor hatte ich eine Schulung zum Thema „Kompetent für Inklusion“ begonnen und wir hatten den Auftrag, eine Projektarbeit zu machen. Hier entstand die Idee. Wir hatten schon Erfahrung mit Auswärtsfahrten, aber noch nicht mit inklusiven. Bei dieser Fahrt hatten wir Gehörlose dabei und eine syrische Familie – ein ganz schwerer Fall – mit Folter. Für die Gehörlosen hatten wir eine Dolmetscherin, die immer abends zu unserer Gesprächsrunde ins Hotel kam. Wir waren auch im Technikmuseum in Sinsheim und hatten zudem ein Treffen mit dem integrativen Fanclub der TSG Hoffenheim im alten Dietmar-Hopp-Stadion. Daran haben auch Raimond Aumann und zwei Profis von Hoffenheim teilgenommen. Seitdem machen wir ausnahmslos inklusive Auswärtsfahrten. Unser nächstes Ziel ist Düsseldorf.

Lisa Schatz: Wie viele Auswärtsfahrten macht ihr pro Saison?

Kim Krämer: In der Regel zwei. Auf Grund der Softwareeinführung haben wir jetzt zwei Jahre hintereinander jeweils nur eine gemacht und eine Tagesfahrt. Die Tagesfahrten sind immer abhängig von Stuttgart und Nürnberg. Wenn die nicht in der Liga sind, können wir keine Tagesfahrten machen.

Lisa Schatz: Welche Schwierigkeiten oder Hürden sind bisher hinsichtlich eurer Auswärtsfahrten aufgetreten?

Kim Krämer: Bei uns ist immer alles ins Detail geplant. Während den Fahrten ist meist alles in Ordnung. Jedoch gestaltet sich die Planung als schwierig: Man muss sich direkt an dem Tag, an dem der Spielplan herauskommt, die Spiele heraussuchen, zu denen man auswärts fahren will. Dann wird gleich das Hotel angefragt. Damit ist der Großteil erledigt. Anschließend werden die Einladungen verschickt, die Rückmeldungen ausgewertet und die jeweiligen Zu- und Absagen versandt. Daraufhin werden das Essen bzw. die Restaurants organisiert oder reserviert. Im Anschluss stelle ich das Programm zusammen. Was auch wichtig ist: Zu prüfen, ob an dem Spieltag eine Messe in der Stadt stattfindet. Wichtig sind vor allem auch unsere 20 bis 25 ehrenamtlichen Helfer, die uns auch bei den Auswärtsfahrten, beim Einkaufen und Brötchen schmieren für die Busfahrt usw. unterstützen.

Lisa Schatz: Wie läuft die Zusammenarbeit mit dem FC Bayern, wie sieht die Unterstützung durch den Bundesligisten aus?

Kim Krämer: Vor dem Bau der Allianz Arena wurden wir auf unsere Nachfrage hin zu einem runden Tisch eingeladen. Damals haben wir gemeinsam mit Peter Czogalla, Uli Hofmann und Jürgen Muth, dem Geschäftsführer der Allianz Arena, eine Begehung gemacht. Wir haben die Plätze begutachtet und Tipps gegeben, dass man hier doch investieren sollte und darauf achtet, dass die Rollis freie Sicht aufs Spielfeld haben, auch wenn die Fans vor ihnen aufstehen.

Bezüglich der Sicht ist Folgendes zu sagen: Auf unserer Seite im Westen befinden sich die Presseplätze. Die Journalisten stehen sowieso nicht auf, da gibt es kein Problem. Aber im Osten wurden zwei Sitzplatzreihen herausgebaut und ein L-Block gebildet. Das heißt: Wenn die Fans in der Reihe vor den Rollifahrern aufstehen, sind deren Köpfe auf Höhe der Füße der Rollifahrer. Ohne diese Maßnahme gäbe es dort zwei Reihen mehr: Das sind auf 10 Jahre gerechnet Einnahmen in der Höhe von ca. 10 Millionen Euro, auf die der FC Bayern verzichtet, damit die Rollstuhlfahrer freie Sicht haben.

Bezüglich unserer Auswärtsfahrten haben wir mit dem FC Bayern vereinbart, dass wir immer das volle Kontingent an Rolli-Tickets bekommen, dazu 4 Tickets zusätzlich für Begleitpersonen. Das klappt seit Jahren sehr gut.

Lisa Schatz: Gibt es noch eine Geschichte, die du erzählen möchtest, Kim?

Kim Krämer: Unser Mitglied Martin Bauer habe ich auf der Auswärtsfahrt nach Hannover kennen gelernt. Wir waren zweimal in einer Autobahnraststätte beim Pause machen – auf der Hin- und auf der Rückfahrt, in der gleichen wie Martin. Wir sind ins Gespräch gekommen. Eine Woche später kam Martin in den Rollwagerl Shop und wurde Mitglied. Er unterstützt uns finanziell, unseren Soli. Das ist bei uns sozusagen das „Sozialticket“. Denjenigen, die sich keine Tickets bzw. Auswärtsfahrten leisten können, werden die Fahrten und Karten durch unseren sog. Solitopf ermöglicht. Normalerweise liegt der Eigenanteil an Auswärtsfahrten bei 80 € – Fahrt, Ticket für das jeweilige Spiel und Übernachtungskosten inbegriffen. Martin unterstützt uns immer und hinterlegt auch ArenaCards, damit sich die Mitglieder, die es sich sonst nicht leisten können, auch hier etwas zu essen und zu trinken kaufen können. Bei uns ist das Sozialticket ein fester Bestandteil. Maximal dreißig Mitglieder nehmen es in Anspruch. Auch dreißig Tickets werden aus dem Solitopf bezahlt. Zudem gibt es ermäßigte Beiträge für die Mitgliedschaft. Diese Gruppe zahlt den halben Preis, um Mitglied zu sein. Früher waren die Auswärtsfahrten „Jugendherberge und McDonalds“, ohne Kultur. Jetzt übernachten wir in barrierefreien Hotels und haben ein Kulturprogramm. Uns war es wichtig, das alles zu verbessern. Die Sponsoren sollen auch sehen, dass wir eine gute Arbeit leisten. Das hat irgendwann eine Eigendynamik entwickelt. Uns ist Zuverlässigkeit absolut wichtig.

Lisa Schatz: Vielen Dank, dass ihr euch so viel Zeit für das Interview genommen habt.

Kim Krämer und Uli Hofmann: Natürlich gerne.

Weitere Informationen für einen barrierefreien Stadionbesuch sind – auch in leichter Sprache und mit Hörservice – unter https://www.barrierefrei-ins-stadion.de/ zu finden.

Heiko Herrlich über seinen einstigen Hirntumor: „Gottesglaube“ und „Angst vor dem Tod“

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Heiko Herrlich schaffte mit dem SSV Jahn den Aufstieg in die zweite Liga und ist nun Erstligacoach bei Bayer 04 Leverkusen. Foto: Lisa Schatz

Rückschläge. Wenn Heiko Herrlich auf seine Karriere als Fußballprofi zurückblickt, erinnert er sich nicht nur an DFB-Pokalsiege und Deutsche Meisterschaften. Neben seinen Erfolgen gab es auch Schattenseiten: Ihn hat unter anderem eine Krebserkrankung geprägt. Im Alter von 28 Jahren wurde beim damaligen BVB-Profi ein Hirntumor festgestellt. Zu dieser Zeit erwartete seine Ex-Frau Herrlichs erstes Kind. Für den jungen Mann kam damals einiges zusammen. Inzwischen ist er 45 Jahre alt, gesund, hat vergangenen Monat den Zweitligaaufstieg mit dem SSV Jahn Regensburg geschafft und kürzlich beim Erstligisten Bayer Leverkusen einen Zweijahresvertrag als Cheftrainer unterzeichnet. Mich hat interessiert, wie er reagiert hat, als er im Herbst 2000 die Diagnose „Krebs“ bekam, inwieweit sich die Wertigkeit des Fußballs dadurch für ihn verschoben hat und wie die Unterstützung durch den Verein für ihn aussah…

Herr Herrlich, wie haben Sie damals von Ihrer Krebserkrankung erfahren, wie hat sie sich bemerkbar gemacht?

Ich hatte ein paar Wochen davor während der Medizinchecks immer wieder eine Sinusitis (Nasennebenhöhlenentzündung; Anm. von LS). Die Nebenhöhlen waren zu und dann hat man sich entschlossen, sie zu fenstern. Ich wurde also operiert und bin zwei, drei Wochen ausgefallen. Als ich wieder eingestiegen bin, hatte ich plötzlich Sehprobleme. Im ersten Moment dachte man, dass das mit der OP zusammenhing. Das wurde kontrolliert. Die Sehnerven waren ok, da war nichts angegriffen. Dann wurde ich zum Neurologen geschickt. Dieser hat einen Kernspin veranlasst, weil ich folgendes Symptom hatte: Ich habe alles doppelt gesehen, links und rechts. Wenn ich in Kopfballduelle gegangen bin, ist der Ball vier, fünf Meter hinter mir gelandet. Eine Woche vor der Diagnose haben wir noch gegen Bayern München gespielt und 2:6 im Olympiastadion verloren. Ich hab noch das 1:0 für uns gemacht, aber in der zweiten Halbzeit habe ich keinen Ball mehr erwischt. Das war irgendwie ganz komisch, ganz merkwürdig. Dann wurde ich in den Kernspint geschickt, habe mich einem Sehtest unterzogen und dort hat sich gezeigt, dass da eine kleine Stelle ist, die sich letztendlich als Tumor herausgestellt hat.

Was war der erste Gedanke, den Sie hatten? Wie haben Sie reagiert?

Unser damaliger Vereinsarzt Dr. Preuhs kam zu mir nach Hause. Meine Ex-Frau war im dritten Monat schwanger mit unserer ersten Tochter. Wir hatten uns gerade Babybücher angeschaut und überlegt, wie wir das Kinderzimmer einrichten. Wir saßen zusammen am Esstisch. Der Arzt sagte, dass ich einen Tumor habe und ich meinte: „Ok, müssen wir halt operieren“. Er antwortete darauf: „Nein, das geht nicht an dieser Stelle. Danach wärst du schwerstbehindert“. Daraufhin hab ich gefragt: „Was bedeutet das jetzt, geht es um Leben und Tod?“. Dann hat er genickt. Das war natürlich ein Schock für mich. Aber anschließend bin ich aufgestanden und habe gesagt, dass ich ein gläubiger Mensch sei und dass ich es vielleicht nicht immer habe wertschätzen und wahrnehmen können, wie gesegnet ich sei und was für eine tolle Ehefrau, Brüder, Freunde und Eltern ich habe. Und ich meinte: „Ja, lieber Gott, wenn das jetzt der Weg ist, den du mit mir vorhast, gut, dann ist das hart, aber dann gehe ich den mit und vertraue dir auch da“. Ich hatte natürlich Tränen in den Augen und dachte mir: „Bitte hilf mir, aus der Nummer rauszukommen“. Das war hart für mich: In dem Moment war es wirklich ein Keulenschlag, aber ich bin ein gläubiger Mensch. Irgendwie habe ich durch mein Gottvertrauen gleichzeitig eine wärmende Unterstützung empfunden. Ich habe gesagt: „Ok, das ist jetzt so“.

 

„Es war ein Zeichen, dass ich einige Dinge ausräumen muss“

Dann habe ich gebetet und das einfach mal für mich sacken lassen und gespürt, dass ich aufräumen muss in meinem Leben. Der Gedanke war: „Ok, das ist jetzt ein Zeichen, dass ich einige Dinge ausräumen muss. Zwischen mir und meinen Eltern, meinen Brüdern, Freunden und meiner Ex-Frau. Dass ich einfach Dinge klarstellen muss“. Das habe ich für mich als Chance begriffen: „Ja, vielleicht habe ich jetzt noch zwei Monate zu leben. Vielleicht sehe ich mein Kind nie. Aber dann habe ich die Chance, zwei Monate alles positiv zu gestalten und in der Zeit das Beste zu geben. Anstatt dass ich jetzt noch fünfzig Jahre lebe und Dinge nicht bereinigt sind. Als ich das dann getan habe, ging es mir besser. Obwohl ich auch Phasen hatte, in denen ich richtige Angst hatte vor dem Tod. Weil ich ja nicht wusste, was auf mich zugekommen wäre an Schmerzen.

Aber dann wurde ich von Professor Sturm in der Uniklinik Köln behandelt. Er war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Gehirntumore und auch ein ganz toller Mensch. Ich habe ihm meine Gefühle mitgeteilt und er hat gesagt, dass er an Gott glaube und dass sich in der Medizin manche Dinge so entwickeln würden, wie man da eben Gott erfährt. Die Medizin habe auch ihre Grenzen. Ich habe meine Situation also in Gottes Hand gelegt und bald kamen die ersten positiven Nachrichten: Die Biopsie, in welcher sich herausgestellt hat, dass es ein böser, schnell wachsender Tumor sei, ergab, dass dieser aber unter Bestrahlung wie Butter schmelze. Das bedeutete, dass mein Tumor nicht operiert, aber durch Bestrahlung bekämpft werden konnte. Ich war dazu in Heidelberg und nach fünf Wochen war der Tumor nicht mehr sichtbar.

Inwieweit wurden Sie in dieser Zeit von Ihrem Verein, dem BVB, unterstützt?

Für mich war eigentlich nach der Diagnose das Fußballthema beendet. Ich wusste: „Jetzt geht’s nur noch um Leben und Tod.

Wenn ich wirklich nochmal auf dem Platz stehen würde, dann wäre das irgendwie alles nur noch ein Bonusprogramm“.

Wie sah die psychologische Unterstützung aus?

Dr. Preuhs hat da menschlich Unglaubliches geleistet. Er ist eigentlich Orthopäde und war während der schwierigen Zeit an meiner Seite. Er hätte ja auch sagen können: „Das wird nix mehr, das geht schief“. Aber er war wirklich an meiner Seite: als Begleiter, Unterstützer, Zuhörer. Im Verein wurde ich natürlich abgeschottet. Mir wurde jegliche Unterstützung zugesagt, aber ich war alleine mit meiner Familie und meinen Freunden und das wollte ich auch so. Für mich waren Herr Dr. Preuhs, Professor Sturm und meine engste Familie da. Es gab sicherlich immer wieder Menschen, die zu mir gekommen sind: ob Stefan Reuter oder Christian Nerlinger, welcher mir damals ein Buch von Lance Armstrong gebracht hat. Aber ansonsten habe ich mich abgeschottet. Du, ich wollte da auch alleine sein. Da kann dir ja niemand helfen. Ich hatte auf jeden Fall die Unterstützung der Fans in den Stadien. Aber ich wollte alleine sein.

War es so, dass Sie – nicht nur alles, was negativ war – bereinigen wollten, sondern auch, dass Sie sich einen Traum erfüllen wollten, zum Beispiel eine Reise? Oder war es eher der Fall, dass Sie die Zeit mit Ihrer Familie und mit Ihren Freunden nochmal richtig genießen wollten, soweit es ging?

Nein, ich wollte den Alltag beibehalten. Meine Ex-Frau hat damals studiert. Ich wollte eben nicht weg, sondern alles normal weiterlaufen lassen und nichts Besonderes machen. Die Bestrahlung war schon eine Belastung. Das war enorm, was da passierte: Ich hatte keinen Appetit mehr, ich konnte nichts mehr essen. Das war schon eine schwierige Phase. Da wollte ich einfach Zuhause bleiben und nicht ins Büro hinein. Als die Symptome und Nebenwirkungen nach einem halben Jahr nachgelassen haben, sind wir eine Woche in den Urlaub gefahren. Danach habe ich aber schon wieder angefangen zu laufen, zu trainieren. Dann kam unsere Tochter und von da an ging’s aufwärts.

 

„Wenn du gesund bist, dann sind das eigentlich schon 99,9 % von deinem Leben“

Wie hat sich – gerade in der Zeit der Diagnose – die Wertigkeit des Fußballs für Sie verschoben?

Ich war vorher schon geerdet und wusste dieses Geschäft einzuschätzen. Es wurde dann einfach nochmal intensiver. Ich wusste, dass ich ein Verfallsdatum auf der Stirn habe. Durch den Hirntumor ist mir das klarer geworden, als mir meine Grundlage entzogen wurde. Letztendlich haben sich die Werte für mich nach dem Hirntumor im Prinzip nochmal verändert. Wenn du gesund bist, dann sind das eigentlich schon 99,9 % von deinem Leben. Wenn du das Glück hast, dann noch eine Arbeit zu haben und abends satt bist und ein Dach über dem Kopf hast, dann geht es dir eigentlich gut.

In dem Moment, in dem du diese Diagnose hast, ist alles andere unwichtig.

Dann interessiert dich nicht, ob du eine schöne Wohnung hast oder ein schönes Haus oder ein schönes Auto. Das wird völlig uninteressant. Das brauchst du dann alles nicht.

Wie war die Zeit der Strahlentherapie? Hat sie Sie ausschließlich geschwächt, sodass Sie nur noch Zuhause gelegen sind, oder gab es eine Phase, in der Sie sich dachten: „Ja, ich habe das Gefühl, es schlägt an“ – auch, wenn man die Schmerzen hat – oder kamen Ihnen Negativgedanken wie: „Was mache ich gerade für eine Hölle durch?“.

Die Kernspintbilder, die MRT-Bilder haben gezeigt, dass die Therapie anschlägt, aber trotzdem war ich gleichzeitig in einem Loch. Diese Therapie war kräftezehrend und sie hat geschlaucht. In der Phase hatte ich Höhen und Tiefen.

Wie schnell sind Sie im Anschluss wieder in den Alltag zurückgekommen? Wie lange wirkte das Ganze nach, wie lange haben Sie sich noch mit der Thematik beschäftigt, oder haben Sie sich wieder komplett von der Familie und dem Fußball mitreißen lassen, als Sie wieder den geregelten Alltag mit den Spieltagen und dem Training hatten?

Das hat sicherlich so zwei, drei Jahre gedauert, weil ich auch Phasen hatte, in welchen ich wirklich kein Vertrauen zu meinem Körper hatte, weil ich immer Angst hatte, dass ich etwas Neues habe. Da ist mir das Gottvertrauen ein bisschen verloren gegangen. Da hatte ich sicherlich auch Phasen, in denen ich Hänger hatte. Letztendlich ging das solange, bis ich angenommen habe, dass ich diese Krankheit eben hatte. Letztendlich, ganz salopp gesagt, habe ich formuliert: „Keiner wird’s schaffen, hier zu bleiben. Das gehört irgendwo auch dazu: diese Schicksalsschläge. Das habe ich nun überwunden“. Heute habe ich einfach so ein Gottvertrauen, sodass alles seine Richtigkeit hat.

Wie hat sich die damalige Erkrankung auf Ihre heutige Einstellung ausgewirkt? Vielleicht sehen Sie das Spiel auch etwas „lockerer“ als früher?

Nein, lockerer nehme ich es nicht. Das ist meine Arbeit. Unser Auftrag ist es, Spiele zu gewinnen und nach Möglichkeit schön zu spielen. Ich versuche immer, mein Bestes zu geben und das sage ich auch den Jungs: „Ihr müsst immer versuchen, euer Bestes zu geben. Wenn die anderen besser sind, dann können wir nichts ändern. Dann muss man das akzeptieren. Ich als Trainer und ihr als Spieler. Dann müssen wir einfach noch weiterfighten und versuchen, das nächste Mal besser zu sein“. Aber wenn das getan ist und wir unser Bestes gegeben haben, dann geht nicht mehr. Man kann es ja nicht kaufen oder erzwingen. Einfach das Beste geben und das dann akzeptieren. Das versuche ich meiner Mannschaft immer wieder zu sagen. Danach verfahren wir. Wir wollen ja Menschen begeistern und Spiele gewinnen. Aber ich bin sehr mit mir im Reinen, wenn ich weiß, ich habe alles gegeben, alles für den Sieg getan. Und wenn es nicht gereicht hat und die anderen besser waren oder ich einen Fehler gemacht habe und den aus bestem Wissen und Gewissen, akzeptiere ich das und gehe mit mir nicht so hart ins Gericht. Ich akzeptiere, dass ich auch Fehler mache. Zum Beispiel hinsichtlich der Aufstellung oder in der Vorbereitung. Ich akzeptiere, dass ich nicht perfekt bin, wie auch die Spieler.

Wenn Sie sich die Entwicklung im psychologischen Bereich im Profifußball im Laufe der Jahre und Jahrzehnte anschauen: Welche Unterstützung erhalten die Profis heute und hat sich das im Gegensatz zu damals geändert?

Sportpsychologie hat nichts mit normaler Psychologie zu tun. Die Topvereine in der ersten Liga haben heute ein Netzwerk von Ärzten in allen Bereichen. Wenn dahingehend etwas wäre, können die Spieler umfangreich unterstützt werden.

Wie war das bei Ihrem Drittligateam in der zurück liegenden Saison? Suchen sich die Spieler, wenn Sie Probleme haben, selbst einen (Sport-)Psychologen?

Nein, mir wäre kein Fall bekannt, in dem einer der Spieler das in Anspruch genommen hat. Wenn die Spieler uns etwas erzählen oder anvertrauen, bieten wir als Trainer ihnen auch Unterstützung in allen Bereichen. Wichtig ist natürlich, dass der Spieler auf uns zukommt und uns sagt, welche Probleme er hat. Das gilt im Übrigen jetzt in der ersten Liga noch ganz genauso. Die Zusammenarbeit mit einem Sportpsychologen – sei es über den Verein oder privat – wäre dann eben nochmal eine zusätzliche Option.

Vielen Dank für dieses offene Interview, Herr Herrlich.

Sehr gerne.

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