Fußballbuch-Update Nr. 16: Von Mario Bast zu Jason von Juterczenka

Es war Herbst als ich mit einem Kumpel im Kino saß. Das Fußballbuch lag bei mir daheim. Wir schauten den Film „Wochenendrebellen“ an und dieser hat mich sehr geflashed! Die Geschichte ist wahr, echt und handelt von einem Autisten, der mit seinem Vater auf die Suche nach seinem Lieblingsverein ist. „Bähm!“ machte es in meinem Hirn. Diesen Jungen hätte ich gerne bei uns im Projektteam. Und ja: Es hat geklappt! Lest nun im Folgenden mein Interview mit ihm und lasst euch gerne auch so positiv beeindrucken wie ich mich begeistern habe lassen. Viel Spaß auf euren gedanklichen Reisen.!

Servus und herzlich Willkommen liebe Fußballfans!

Ich sitze hier mit Jason von Juterczenka in München und er ist Teil unseres Fußballbuchprojektteams. Vielen Dank, dass du mitmachst, Jason. Du darfst bitte gleich mit deiner Geschichte loslegen .

Ich bin Jason und ich bin seit 2012, also jetzt seit 13 Jahren eigentlich, mit meinem Papa unterwegs, in den Stadien in Deutschland und Europa und es geht darum, meinen Lieblingsverein zu finden. Ich denke, viele müssen ihren Lieblingsverein gar nicht wirklich finden, aber als ich zum ersten Mal ein Fußballspiel gesehen habe und mich gefragt habe, was hat es mit diesen Fans auf sich? Wie funktioniert das? Wieso fiebern dort Menschen für eine Sache mit, wo sie doch eigentlich gar nicht mitspielen? Was hat das damit zu tun?

Ich bekam die Möglichkeit, Fußballbuchprojekt-Teammitglied Jason von Juterczenka in München zu interviewen.
Bildrecht: Lisa Schatz.

„Ich möchte auch wissen, wie es ist, Fan von einem Verein zu sein“

Dann haben mein Papa und mein Opa mir erklärt, was Fans eigentlich sind. Dass die meisten Menschen diese Entscheidung gar nicht bewusst treffen, sondern dass sie Fan von dem Verein werden in der Stadt, in der man geboren ist oder Fan des Lieblingsvereins der Eltern. Und gleichzeitig haben sie auch gesagt, das ist total wichtig und das bleibt fürs Leben. „Passt das zusammen?, habe ich mich gefragt. Auf der einen Seite ist es eine wichtige Entscheidung für immer, auf der anderen Seite überlässt man sie dem Zufall. Das erschien mir nicht logisch. Ok, ich möchte das auch. Ich möchte auch wissen, wie es ist, Fan von einem Verein zu sein. Aber diese Entscheidung muss auf Fakten basiert getroffen werden. Deswegen haben wir uns auf die Suche gemacht.

Wie seid ihr an das ganze rangegangen? Hattet ihr da eine Struktur, habt ihr gelost?

Das Losen aus dem Film wurde aus der Realität, unserem Podcast entnommen, weil da losen wir die Themen. In der Realität – tatsächlich – sind wir die Stadien der ersten Ligen so durchgegangen. Irgendwann war es dann so, dass wenn mein Papa irgendwo vom Stadion bei der Arbeit war, haben wir geguckt, was sind die nächsten Spiele? Deshalb wurden es oft die Spiele der vierten, fünften oder der unteren Ligen. Gar nicht nur der ersten drei.

Einmal im Jahr geht’s mindestens ins Ausland, weil die ersten drei Ligen sind dann irgendwann voll in Deutschland und dann muss man halt woanders gucken.

Wenn Herthino zum Umarmen kommt

Du hast vorhin von Kriterien gesprochen. Was waren deine Kriterien, was ist dir wichtig?

Die Kriterien sind – ich würde sagen – sechs. Könnte man so zusammenfassen. Wichtig ist, dass es kein Maskottchen gibt. Diese Regel ist dann später bei Hertha BSC entstanden als Herthino mich umarmen musste und ich wegrennen musste. Dann darf der Verein keinen Spielerkreis machen, indem sich die Spieler anfassen. Wegen des Körperkontakts hauptsächlich. Der Verein muss ökologisch und auch sozial engagiert sein. Ein häufiges Ausschlusskriterium sind zum Beispiel Einweg-Plastikbecher, weil die halt auch überall rumliegen. Das ist ein Kriterium. Das Stadion muss in irgendeiner Form eine interessante Skurrilität haben. Es muss irgendetwas geben, was das Stadion auszeichnet.

Hast du da ein Beispiel?

Eine coole Skurrilität ist in Babelsberg, die Flutlichtmasten, die man so einknicken kann. Das hat mir sehr gut gefallen. Oder die Anzeigetafel bei Union Berlin, wo die Schilder dranhängen. Die durfte ich auch mal bedienen, neulich, tatsächlich. Das waren definitiv Skurrilitäten, die gezählt hätten, so. Und dann gibt’s noch einen Kreis.

Das Ganze muss mit dem Zug erreichbar sein, die Fanszene muss politisch stabil sein. Das sind – würde ich sagen – so die Kriterien.

Was hat dich auf deinen bisherigen Reisen am meisten beeindruckt? Kannst du da ein bisschen was herausgreifen? Hm, was ich am Spannendsten finde… Oder was macht dir am meisten Freude? Auch die Zeit mit deinem Dad zu verbringen?

Durch die ganzen Fankurven, in denen ich halt war, und die ich gesehen habe. Ja, ich würde definitiv sagen, dass das ein Punkt ist. Außerhalb der Wochenenden haben wir gar nicht so viel Zeit zusammen. Ich bin in der Schule oder habe mit einem Projekt im Forschungszentrum zu tun. Mein Papa muss in der Regel arbeiten. Daher waren die Wochenenden die einzigen Zeitpunkte eigentlich aber die dafür sehr intensiv. Über die gesamten zwei Tage, wo dann auch so viel passiert. So viele Ereignisse treten auf, die meinen Papa dann zum Beispiel in eine Situation bringen, in der er sich dann mit beschäftigen muss oder mit mir eine Lösung suchen muss. Dadurch waren das besonders intensive Zeiten. Am Fußball, würde ich sagen, ich mein, das ganze ging ja mehr oder weniger los, weil ich nicht verstanden hatte, was es mit den Fans auf sich hat bei meinem ersten Stadionbesuch. Ich würde auch bis heute nicht sagen, dass ich es nicht zu 100 % nachempfinden kann. Ich hab ja noch keinen Verein gefunden. Aber ich würde definitiv sagen, durch die ganzen Fankurven, in denen ich halt war und die ich gesehen habe, habe ich – ich konnte schon irgendwie besser verstehen, was die Faszination daran ist.

Ich kann dann besser einschätzen, was die Bedeutung dieses Vereins für die Menschen ist. Weil ich auch Menschen gesehen habe – wirklich, man hat es denen so angesehen im Gesicht. Wenn die jetzt verlieren, dann ist der Monat gelaufen. Die Bedeutung, dass sich das ganze Leben praktisch darum dreht . Das ist schon beeindruckend. Auch wenn ich nicht weiß, ob ich das möchte. Aber das ist beeindruckend.

Wenn du deinen Lieblingsverein finden solltest, was passiert dann? Ja. Warum hast du so viele Regeln? Was zeichnet dich aus?

„Regeln sind sehr wichtig“

Regen sind sehr hilfreich zur Bewältigung des Alltags, denn ohne Regeln wird ja alles kompliziert. Regeln vereinfachen sehr viel. Regeln sind praktisch anwendbare Kataloge, wo man nach einem vorgefertigten Muster das ganze abklären kann. Wenn es keine Regeln gibt, dann ist es wie eine Sprache zu lernen, wo es keine Regeln gibt. Wo man jedes Wort einzeln lernen muss. Wie wird das jetzt gebildet? Das wäre furchtbar. Niemand könnte diese Sprache sprechen. Ich glaube so ist es dann auch im Alltag. Wenn es bei der Person keine Regeln gibt. Wenn es in einer Menschengruppe keine Regeln gibt, wie soll man sich dort zurechtfinden? Wie soll man interagieren? Wonach richtet man sich in seinem Handeln? Es ist ja nicht so, dass dann alles ok ist. Es sind dann trotzdem Dinge nicht in Ordnung. Das ist nicht festgelegt. Man muss das alleine wissen. Das erscheint mir sehr unlogisch und Regeln sind deswegen richtig und ja, auch bei einer Suche nach einem Lieblingsverein. Damit das beste Ergebnis rauskommt. Ohne Regeln würde das nicht funktionieren. Und eine der Regeln ist zum Beispiel, dass Projekte nicht enden dürfen. Das ist einfach so. Aus dieser Regel wurde abgeleitet, dass wenn ich meinen Lieblingsverein gefunden hab, dann darf die Reise nicht vorbei sein. Das heißt, dann muss es weitergehen. Das bedeutet, dass zum Beispiel eine 34er-Saison. Dass mir mein Papa versprochen hat, dass wir zu allen Spielen in einer Saison fahren.

Jason hat auf einer seiner Reisen das Weserstadion besucht.
Foto: Jason von Juterczenka

Was natürlich sehr spannend ist, wenn du deinen Lieblingsverein im Ausland findest…

Ja. Mit dem Zug dann auch. Oder ins Trainingslager mit dem Verein zum Beispiel. Da gibt’s diverse andere Projekte, die danach dann folgen können. Mein Papa hat sich in die miese Bredouille ein bisschen dadurch gebracht, dass es mal eine Zeit gab, wo er versucht hat, mich von seinem Lieblingsverein zu überzeugen, von Fortuna Düsseldorf. Wo ich mir gedacht hab, wenn er mir das verspricht, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ich auch bereit bin einen Verein zu finden. Wenn ich Angst davor hab, dass das Projekt dann endet, dann würd ich mich ja nie entscheiden. Aber jetzt hat der Papa das Versprechen gegeben und ich hab mich trotzdem nicht entschieden. Das ist ein bisschen daneben gegangen vermutlich.

Magst du vielleicht so ein bisschen von deinem Hintergrund erzählen? Damit die Leserinnen und Leser verstehen können – du bist Autist. Was es für dich, also aus deiner Perspektive, vielleicht auch so ein bisschen schwierig macht auf diesen Reisen?

Autismus ist letztendlich eine Neurodivergenz. Das ist eine andere Verschaltung des Gehirns, die mit einer anderen Wahrnehmung der Welt einhergeht, und diese Wahrnehmung ist häufig intensiver in Bezug auf Reize. Das bedeutet zum Beispiel, also Stadien sind eine sehr reizintensive Umgebung bezüglich der Lautstärke, bezüglich der Menschenmengen, die einen eventuell auch berühren könnten, die Lautstärke. Von daher ist es eigentlich, naja, kontraintuitives Denken, dass es mir in Stadien besonders gut gehen könnte. Als es losging haben wir gesagt das ist eine furchtbare Idee.

Aber du bist dran gewachsen letztendlich, oder?

Sie haben ja auch recht. Diese reizintensiven Umgebungen sind schwierig. Die werden auch nicht einfacher mit der Zeit. Es ist nicht so, dass man sich daran gewöhnen kann. Das ist es nicht.

Einfacher damit umzugehen, oder?

Es ist eine Abwägung dann, genau. Es ist einfach eine Abwägung, weil ja, es war schwierig. Es war auch beim ersten Mal sehr schwierig, aber es war halt auch sehr cool. Es hat mir gleichzeitig sehr gut gefallen. Was überwiegt jetzt? Der positive oder der negative Aspekt?

Wenn die positiven Aspekte überwiegen und ja, wenn ich diesen Ausflug hatte. Ja, es war schwierig, aber es hat mir gefallen und es hat mir eben mehr gefallen als dass es eine Herausforderung oder eine Belastung war, dann fällt die Nutzungsbilanz ja positiv aus und dann wiederholt man das.

Ja, sehr cool. Lass uns vielleicht so ein bisschen wieder eine Brücke zum Fußballbuch schlagen. Was hat dich dazu bewogen, mitmachen zu wollen? Du hast dich ja ziemlich schnell entschieden.

Grundsätzlich bin ich ein Fan von solchen Projekten oder von solchen Ideen. Fast ne Idee, die hätte ich auch haben können, hab ich mir gedacht. Und mir war recht klar, dass die Geschichte ziemlich gut passt. Du hast mir erzählt, wofür das so gedacht, was die Idee darin ist und das hat da sehr gut reingepasst. Ich fand die Idee irgendwie cool, wo geht das Buch danach hin? Ich weiß nicht, wie das dann bei den Leuten ist, aber als ich das Buch bekommen habe, habe ich mir alles davor durchgelesen. Vielleicht lesen dann auch andere, die das Buch bekommen, meine Geschichte. Von daher wollte ich da auch mitmachen.

Du stehst ja auch für Internationalität, indem du viel reist, wie das Buch auch. Wo willst du denn als nächstes hin? Wenn du dir ein Land aussuchen könntest, was würdest du als nächstes machen wollen? Vielleicht auch ein Ziel, dass ein bisschen weit ist?

Ein Versprechen, das schon sehr sehr alt ist, von meinem Papa – ich glaub das ist das allererste Versprechen, das er mir gegeben hat, ist, dass wir mal Shinkansen fahren, weil ich total zugbegeistert bin. Irgendetwas im ostasiatischen Raum könnte ich mir vorstellen, weil dort auch die Stadien sehr, sehr skurril sind, weil man viele Vereine erleben könnte. In Singapur gibt es zum Beispiel ein Stadion, das liegt praktisch auf dem Wasser. Diese Skurrilität hatte etwas, das dieses Kriterium wieder voll erfüllen würde. Auch so, wenn man dort recherchiert, gibt es sicherlich auch viele kleinere Vereine, die man sich dort auch anschauen könnte. Von daher: Da müssen wir ja eh nochmal hin, das ist ja ein Versprechen. Und auf dem Weg dahin, gibt es sicherlich auch vieles, was man sich anschauen kann. Ansonsten im europäischen Ausland liegt sicherlich die Slowakei, Tatran Čierny Balog, wo zwischen Spielfeld und Tribüne eine Zugstrecke verläuft. Das liegt auf jeden Fall noch an.

Wie schaut’s mit Luton Town aus?

Jason und sein Vater sind hier im Estadio de San Mamés in Bilbao zu sehen. In England waren sie noch nicht auf Grund des Fußballs, doch dies steht natürlich noch auf dem Plan.
Bildrecht: Jason von Juterczenka

England fehlt uns noch komplett als Land. Das steht definitiv auch bald an. Was dann in England wird – ja, da könnte man natürlich kombinieren. Es gibt die Forest Green Rovers, wie mir alle erzählen, weil die sehr ökologisch sind, womit das Kriterium zumindest abgehakt wäre. Es gibt Luton, worüber wir gesprochen haben. Dass man durch ein Wohnhaus muss, um in ein Stadion zu kommen, das ist perfekt. Das erfüllt dieses Skurrilitätskriterium genau. Klar, es gibt in England noch so viele andere Vereine, wo man eigentlich unbedingt mal hin muss. Von daher, ja, auch das ist definitiv fest geplant.

Gibt es ein paar Anekdoten oder besondere Reisen – klar, du erlebst immer wahnsinnig viel, es sind wahnsinnig viele Einflüsse? Du lernst wahrscheinlich auch viele Menschen kennen auf den Reisen, in den Zügen, kommst ein bisschen in Gespräche, aber gibt es irgendwas, das dir mal besonders aufgefallen ist, was dir besonders in Erinnerung geblieben ist oder ist das schwierig, weil das jetzt schon so viele? Wie viele Kilometer habt ihr ungefähr zurückgelegt? Oder wie viele seid ihr ungefähr im Schnitt unterwegs?

Wir hatten 150 Spiele, müssten es ungefähr gewesen sein. Es gab Spiele in Sarajevo, wo das 1.500 oder 2.000 Kilometer waren. Bei anderen waren es vielleicht nur 100 Kilometer. Ich weiß nicht, mit welchem Durchschnitt man da rechnen könnte. Aber das sind alles Statistiken, die wir erstellen wollen, wenn wir mal die Zeit dafür haben. Ich würde sagen, was bis jetzt, was immer ein bisschen ironisch ist – wo mein Papa und ich auch sehr gegensätzliche Ansichten darüber haben, das war ein Versuch beim VfR Aalen. Wenn mein Papa hier sitzen würde, würde er ganz anders darüber sprechen. Er würde mir widersprechen. Für ihn war das der Tiefpunkt. Es war mitten im Winter und ich hatte an einem Spieltag freie Auswahl, wo es hingehen sollte. Ich hab dann entschieden, wir fahren zu VfR Aalen gegen SV Sandhausen. Das hatte uns noch gefehlt. Das war damals zweite Liga. Deswegen sind wir da hingefahren. Es sind sieben Stunden Regionalbahnanreise. Das gefällt mir natürlich auch. Mit Schnee. Normalerweise ist die Überkommerzialisierung des Fußballs ein Ausschlusskriterium, aber beim VfR Aalen wurde das so auf die Spitze getrieben, dass es schon wieder skurril war. Die Eckbälle wurden von der Jimbo Autowäsche präsentiert. Die Autowaschanlage wirbt mit einem Elefanten, der mit seinem Rüssel Autos sauberspritzt.

Was natürlich in der Realität nicht stattfindet…

Bei jedem Eckball wurde ein extrem lautes Elefantengeräusch abgespielt. So richtig alte kratzige Lautsprecher. Es waren echt viele Eckbälle.

Das ist natürlich schwierig mit der Lautstärke.

Ich fand das vergleichsweise unfassbar lustig. Das war echt die skurrilere Marketingaktion. Noch skurriler: Die Apotheke sponsort die Ansage der verletzten Spieler oder, was wir einmal bei Karlsruhe hatten, war: Die Aufstellung der Gästemannschaft wurde von der Trauerhilfe gesponsert. Das ist extremst makaber, aber auch möglichst skurril. Sowas bleibt natürlich in Erinnerung. Der ganze Ausflug war einfach ein Fiebertraum. Ich sehe selber, dass die Überkommerzialisierung problematisch ist. Aber wenn ich nicht den Verein betrachte, sondern nur diesen Tag, dann hat es mir unglaublich gut gefallen, weil es einfach lustig war. Für meinen Papa war es die Hölle. Das bleibt sehr gut in Erinnerung.

Gibt es etwas, dass du zum Abschluss sagen willst – zum Projekt vielleicht?

Ich denke es wird noch eine Weile so weitergehen. Und noch ein bisschen dauern. Ja, ich weiß noch nicht genau, ob ich meinen Verein jemals finden werde, und das wäre sogar ok. Normalerweise wäre ich sehr nervös, wenn ich nach zwölf Jahren, nach Beginn eines Projektes das Ziel immer noch nicht erreicht habe. Aber das ist hier irgendwie anders, weil ich so ein bisschen vielleicht auch Fan davon geworden bin einfach, einen Verein zu suchen.

Der Weg ist das Ziel.

Ja, so könnte man es sagen. Deswegen: Ich wäre nicht traurig, wenn wir gar keinen Verein finden und wenn wir doch einen finden, dann wäre es auch lustig. Und mich würde es nicht wundern, wenn ich in 30, 40 Jahren meinen Papa im Rollstuhl ins Stadion schiebe, in der vierten lettischen Liga. Das wäre auch eine Aussicht, mit der ich sehr gut leben könnte. Von daher wird es noch viele, viele Erlebnisse geben, von denen wir berichten können im Podcast und im Blog, in weiteren Büchern vielleicht. Das ist glaube ich eine unendliche Geschichte.

Das ist ein super schönes Schlusswort. Ich wünsche euch weiterhin gute Reisen und vielen Dank nochmal, dass du Teil unseres internationalen Fußballbuch-Projektteams bist!

Funfact in der Nachspielzeit

Nach unserem Interview gingen wir in Richtung Münchener Hauptbahnhof und sahen den Mannschaftsbus des BVB. Das passte thematisch natürlich super, um ein Bild zu machen. Da wollte Borussia Dortmund wohl einen Beitrag zum internationalen Fußballbuchprojekt leisten…?! 😉

Nicht nur das Fußballbuch reist, sondern auch die Fußballspielerinnen und Fußballspieler gemeinsam mit ihrem Staff. International. Auf dem Bild, das Jason nach unserem Gespräch von mir gemacht hat, seht ihr mich mit dem Buch vor dem Teambus von Borussia Dortmund. Das Bild, das das Cover darstellt, hat Felix Schneider gemalt, und das, das auf der Rückseite zu sehen ist, stammt von Johanna Busch. Beide haben diese Kunstwerke zu ihrer Schulzeit gemalt! 😊
Foto: Jason von Juterczenka

Prof. Dr. Jürgen Buschmann und das „Team Köln“: Spielanalysen für die deutsche Nationalmannschaft

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Prof. Dr. Jürgen Buschmann war von 2005 bis 2014 Leiter der Abteilung Scouting-Studien an der Deutschen Sporthochschule Köln. Foto: Buschmann

Team hinter dem Team. Die EM hat begonnen,  Joachim Löw und sein Team arbeiten auf Hochtouren. Doch nicht nur die Mannschaft gibt ihr bestes, auch der Leistung des Teams hinter dem Team sollte großer Respekt gezollt werden. Die Menschen, die im Hintergrund rackern, tragen einen enormen Teil dazu bei, dass die Mannschaft top vorbereitet in die Spiele gehen kann. Einer, der von 2005 bis 2014 zum Team hinter dem Team gehörte, ist Professor Jürgen Buschmann. Sein Spezialgebiet: Spielanalysen. Lest im Anschluss ein spannendes Interview mit dem Mann, der mit dem „Team Köln“ Jogis Gegner knackte…

Herr Professor Buschmann, bitte beschreiben Sie zunächst in Kürze, welche Verbindung Sie zum Fußballsport und zur DSHS haben.

Ich war bis 2014 Dozent an der Deutschen Sporthochschule in Köln und war dort Leiter des Zentrums für Olympische Studien sowie der Abteilung Scouting-Studien. Von 1990 bis 2002 war ich als Dozent im Bereich Fußball tätig. Bis zur dritten Liga habe ich früher selbst gespielt und damit mein Studium finanziert. Anschließend habe ich die Trainerlizenzen gemacht und bis zur dritten Liga als Trainer gearbeitet. Danach habe ich viel im unteren Amateurbereich mitgeholfen und zum Beispiel 1980 das größte Breiten- und Freizeitturnier im westdeutschen Raum mit 150 Mannschaften organisiert.

Klinsis Anruf um 1 Uhr nachts

Wie kam es dazu, dass sie Leiter der Abteilung Scouting-Studien an der Deutschen Sporthochschule Köln wurden?

Eigentlich wollte ich 2005 ein bisschen mit dem Fußball „brechen“. Ich war in ein Alter gekommen, in welchem man mehr für die Wissenschaft tätig sein sollte, und vielleicht mehr Theorie als Praxis gefordert sein sollte. 2005 kam jedoch ein Anruf von Jürgen Klinsmann, der fragte, ob ich mir vorstellen könnte, für die WM 2006 zusammen mit Studierenden ein paar Gegner mit zu beobachten. Die Motivation vor der Weltmeisterschaft im eigenen Lande war sehr hoch und da habe ich natürlich spontan „ja“ gesagt. Damals haben wir mit fünfzehn Studierenden diese 31 potenziellen Gegner beobachtet, allerdings sehr oberflächlich. Ist ja klar, mit fünfzehn Leuten. Das hat sich bis 2014 weiterentwickelt, als wir dann mit mehr oder weniger 50 Studierenden und vier wissenschaftlichen Mitarbeitern während der WM in Brasilien gearbeitet haben. So hat sich das von Turnier zu Turnier weiter verbessert. Aus wissenschaftlicher Sicht hat sich parallel dazu ein eigener Weiterbildungs-Masterstudiengang für Spielanalyse an der DSHS Köln entwickelt.

Wie ist Jürgen Klinsmann auf Sie gekommen?

Der Kontakt ist über den TV- und Medien-Koordinator der Nationalmannschaft, Ulrich Voigt, der ein persönlicher Freund von mir ist und mit dem ich zusammen Fußball gespielt habe, entstanden. Als ich in der dritten Liga Trainer wurde, war er unser Kapitän. Wir kennen uns seit den 70er Jahren. Er saß damals vor dem Länderspiel gegen die Niederlande in Rotterdam mit Jürgen Klinsmann zusammen. Jürgen Klinsmann und Joachim Löw haben überlegt, wie sie die Arbeit im Scoutingbereich vorantreiben könnten. Uli meinte: „Ja, ich kenn‘ einen an der Uni, der macht das auch schon die ganze Zeit und könnte uns bestimmt weiterhelfen“. Daraufhin meinten Löw und Klinsmann: „Könntest du ihn anrufen?“. Nachts um 1 Uhr haben sie mich damals aus dem Bett geholt, weil sie das dann natürlich direkt haben wissen wollen.

Die Anfänge des „Team Köln“

Wie kann man sich das genau vorstellen? Sie hatten zugesagt. Wie haben Sie angefangen, das Ganze zu strukturieren?

Ich war der einzige, der sich damals an der Deutschen Sporthochschule mit diesem Bereich beschäftigt und die ersten Analysen gemacht hatte. Ich habe versucht, die Fußballkollegen zu motivieren mitzumachen. Diese haben jedoch abgelehnt. Sie meinten, dass das viel zu aufwendig sei und man für ein Spiel ein paar Tage bräuchte. Ich habe also zunächst einmal geschaut, welche aktuellen Softwaremöglichkeiten es auf dem Markt gibt. Einige kannte ich bereits. Dann bin ich zur Firma Mastercoach gegangen, weil ich mit dieser bereits im Vorfeld zusammengearbeitet hatte. Da merkte ich auf einmal, dass die Mitarbeiter ein bisschen zurückhaltend waren. Bis ich mitbekommen habe, dass sie eigentlich gerne meinen Job gehabt hätten und auch schon mit einem Mitarbeiter ein paar Sachen für den DFB gemacht haben. Das war mir damals nicht so bewusst. Nichtsdestotrotz haben wir die Lizenz bekommen. Zudem hat Uli Voigt über die Telekom fünfzehn Laptops besorgt, sodass wir schließlich auf jedem Laptop eine Lizenz hatten. So konnten wir nach den Vorgaben des DFB und der Trainer die ersten Mannschaften analysieren. Klar hatten wir die Informationen über die 31 Teams, aber wichtig waren vor allem die Vorrundengegner sowie potenzielle Viertelfinal- und maximale Halbfinalgegner, die wir analysiert hatten. Vom Rest haben wir nur allgemeine Informationen gesammelt. Aber das ging schon im Jahre 2006 so weit, dass ich alle deutschen Botschaften der Länder, gegen die wir gespielt oder die an der WM teilgenommen haben, angeschrieben habe. Von diesen 31 Ländern haben 22 deutsche Botschafter geantwortet. Die Hälfte davon hat gesagt, dass sie uns keine Informationen geben würde. Ich wollte nichts anderes von ihnen haben als z. B. den „Kicker“ von Brasilien oder so etwas in der Art. Ich wollte keine Geheiminformationen, sondern einfach nur die Tages- oder Sportzeitungen von ihnen haben. Aber selbst diese haben mir einige Botschaften nicht gesandt. Allerdings habe ich dann dennoch über den Kurierdienst jede Woche ein Zeitungspaket bekommen. Wir hatten an der Sporthochschule Studierende aus über 80 Ländern und somit immer jemanden vor Ort, der übersetzen konnte. So haben wir weitere Informationen eingeholt, denn die Trainer haben sich von Anfang an auch für die Stimmung in den verschiedenen Ländern interessiert. Wenn es hieß, dass ein Land gegen Deutschland spielen würde, wollten sie wissen, wie in diesem Land über Deutschland gedacht wird. Darüber hinaus konnten wir über diese Medienanalyse auch sehr gut die Persönlichkeitsstrukturen der Spieler aufzeichnen. Diese Informationen zu haben ist in der heutigen Zeit nicht ganz unwichtig.

Wie hat sich das Team Köln anfangs zusammengesetzt und wie setzt es sich jetzt zusammen?

Bis 2014 lief das ganze unter meiner Leitung, inzwischen ist Dr. Stephan Nopp der Leiter der Abteilung. Er hat zunächst in Köln studiert, war währenddessen Mitarbeiter des Analyseteams und hat schließlich seine Diplomarbeit über die Spielanalysen 2006 geschrieben. 2012 hat er seine Doktorarbeit darüber verfasst, inwiefern Ballbesitz für den Spielausgang ausschlaggebend ist. Jetzt sitzt er bei Joachim Löw mit im Team. Für jemanden wie mich ist das natürlich eine sehr schöne und erfolgreiche Geschichte, wenn man das von Anfang an miterleben kann. 2014 waren um die 45 Studierende im Team Köln. Für die aktuelle EM sind derzeit 30 bis 40 Studierende im Einsatz. Wir hatten interessanterweise sehr viele ausländische Studierende dabei: Koreaner, Japaner usw. Es waren oft Studierende der Länder im Team, gegen die wir gespielt haben. Da gab es aber nie Probleme. Sie fanden es sehr wichtig, an unserem Projekt teilzunehmen, um das Gelernte eventuell später auch in ihr Land transportieren zu können.

Wie läuft die Arbeit genau ab?

2006 war es zum Beispiel so: Ein Student hatte ein A-Team und ein B-Team. Ein A-Team war ein potenzieller Gegner, gegen den wir spielen konnten, und ein B-Team war ein Gegner, auf den man wahrscheinlich nie treffen konnte. Wir haben pro Land die letzten drei, vier vergangenen Qualifikations- und Freundschaftsspiele nach Vorgabe der Trainer analysiert und ihnen die Ergebnisse vorgelegt. Aber man muss sich mal vorstellen, wie sich die technischen Möglichkeiten, die wir hatten, entwickelt haben: 2006, noch während der WM, mussten wir natürlich weiterarbeiten und die entsprechenden Gegner analysieren. Das haben wir in Köln gemacht und haben dann die gebrannten DVDs per Kurierdienst zum Flughafen Köln/Bonn gefahren, von wo aus sie nach Berlin geflogen wurden. Denn mit der Internetübertragung damals, fünf Gigabyte, da war überhaupt nicht daran zu denken, dass man die Daten abschicken konnte. Das heißt, das war damals wirklich noch technisches Mittelalter. Aber es hat geklappt.

Das allerwichtigste, was wir schon im Vorfeld unserer ersten WM-Analyse gemerkt haben: Wir mussten erstmal lernen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Denn im Fußball kann man wohl Tage und Wochen darüber diskutieren, was ein „Zweikampf“ oder was eine „Torchance“ ist, was ein „Pass in die Tiefe“ ist und um wie viel Prozent das ganze abweichen darf, damit es noch ein „Pass in die Tiefe“ ist. Da ist in mir natürlich der Wissenschaftler hochgekommen, der das alles genau definiert haben wollte. Anfangs war das auch ein kleiner Kampf mit den Trainern, denn so genau wollte man das auch nicht haben. Man wollte natürlich in der Fußballpraxis bleiben. Für uns aber war es dennoch wichtig, dass sowohl alle Trainer als auch Studierenden eine gemeinsame Fachsprache beherrschten. Nach der WM 2006 hat sich der Trainerstab unter der Leitung von Joachim Löw zusammengesetzt und man hat eine Spielphilosophie entwickelt. Man hat Leitlinien für jede einzelne Position und für die Mannschaftsblöcke entwickelt. Ich habe versucht, diese wissenschaftlich zu überarbeiten. Im Laufe der Zeit hat sich das immer weiter entwickelt. Damit das klarer wird, erläutere ich das an einem Beispiel: Am „Abdrängen des Außenstürmers“. Wie soll der Verteidiger stehen, wohin soll der Verteidiger den Außenstürmer abdrängen? Die Philosophie der Nationalmannschaft besagte damals: „Möglichst nach innen“. Und in jedem Lehrbuch steht natürlich: „Nach außen“. Aber man bildet dann „Abwehrdreiecke“ und so weiter. Man muss aber jede einzelne Situation ganz konkret beurteilen. Aber nach diesen Formen der Spielphilosophie, wie z. B. dem Abdrängen des Stürmers durch einen Verteidiger, wurden die Szenen abgelegt. Wenn wir zehn Szenen hatten und fünfmal nach außen und fünfmal nach innen abgedrängt wurde, oder in der Regel eben neunmal nach außen und einmal nach innen, dann heißt es eben: Der Verteidiger drängt den Stürmer in der Regel nach außen ab oder nach innen ab. Der Gegner wurde so nach der Spielphilosophie der deutschen Nationalmannschaft analysiert.

Studentische Spielanalysen für das Nationalteam: Alles EHRENAMTlich

Im Jahre 2008 hatten wir dann schon ein relativ großes Team an Studierenden. Jede/-r von ihnen hat in dem halben Jahr vor einer EM oder WM mindestens zehn Stunden pro Woche gearbeitet. Sie wurden in Seminaren auf die Analysen vorbereitet. Wenn man das hochrechnet und wenn dreißig Leute arbeiten, kamen da schon einige Planstellen zusammen. Viele von ihnen haben gefragt, warum der DFB ihre Arbeit nicht bezahlen würde. Am Anfang war ich auch ein bisschen der Meinung, dass sie Geld für die Analysen bekommen sollten. Aber hinterher fand ich es dann korrekt, dass die Arbeit unbezahlt war, weil die Studierenden so hoch qualifiziert wurden. Die DFB-Trainer sind nach Köln gekommen, haben sie ausgebildet und ihnen nochmal die Spielphilosophie der Nationalmannschaft vermittelt – in Theorie und Praxis. Zudem gab es manchmal Trikots oder ein gemeinsames Essen mit Urs Siegenthaler und weiteren DFB-Mitarbeitern, wofür der DFB die Kosten übernommen hat. Am Ende ihrer Tätigkeit als Spielanalyst(-inn-)en bekamen sie von Oliver Bierhoff, Joachim Löw und mir ein offizielles Zeugnis ausgestellt. Ich denke, dass diejenigen, die wirklich Interesse haben, an so etwas teilzunehmen, so stark davon profitieren, dass das auch keine 500 Euro im Monat aufgewogen hätten. Aber wir konnten uns dann auf jeden Fall sicher sein, dass wir die richtigen hatten, die zu 100% dahinterstanden. Entwickelt hat sich das sehr stark, immer wissenschaftlicher. Was vom Trend her sehr interessant ist: Am Anfang haben wir rein qualitativ gescoutet, es wurde also kaum statistisches Material verwendet, sprich es gab kaum diese berühmten Strichlisten. Vielmehr wurde versucht herauszufinden, wie sich der Gegner bei Rückstand verhält, wie sich die einzelnen Mannschaftsblöcke verhalten, wie das Umschaltspiel nach Ballgewinn und nach Ballverlust ist, wie schnell der Gegner dann wieder in der Grundordnung ist. All diese Informationen haben die Trainer natürlich viel mehr interessiert als beispielsweise die Anzahl der Ecken.

Wir hatten später natürlich sehr viele Analysedaten. Deshalb sind wir dazu übergegangen, das Statistische in den Mittelpunkt zu stellen, weil wir mit dem statistischen Material dann eben wirklich auch wissenschaftlich arbeiten konnten – also mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen, mit Varianzanalysen, sodass wir da einige gute Ergebnisse erzielen konnten. Aber interessanterweise ging der Trend von der Überbetonung der „reinen Zahlen“ wieder zu 50% qualitative und 50% quantitative Arbeit über. Jetzt ist es so, dass das Qualitative noch mehr im Mittelpunkt steht, wobei die Zahlen und Daten die Basis darstellen.

 

Beherrschen der Fußballsprache als Grundvoraussetzung

Welches Fußballwissen müssen die Studierenden mitbringen, um Teil des Team Köln werden zu können?

Wir haben eine Fibel von rund 100 Seiten mit der Fußballsprache. Diese müssen die Bewerber/-innen draufhaben. In dem Buch steht beispielsweise, was ein „Pass“ ist und ab wann das ganze als „Dribbling“ zählt, ab drei Ballkontakten. Alles muss ganz klar definiert sein.

Wie werden dann zwei aufeinanderfolgende Ballkontakte eines Spielers bezeichnet?

Das ist die „Ballverarbeitung“. Was wohl genauso interessant ist: Bei uns gibt es den Begriff „Zweikampf“ nicht. Ein „Zweikampf“ besteht eigentlich nur, wenn zwei Spieler in gleicher Entfernung auseinander stehen und der Ball genau in der Mitte herunterfällt. Diese Situation gibt es ja so gut wie nie. Deshalb wird der „Zweikampf“ bei uns in vier verschiedene Bereiche eingeteilt: Das ist das Verhindern eines Zusammenspiels, das Tackling, die Abwehr gegen Dribbler und das Kopfballspiel. Genauso verhält es sich mit dem Begriff „Torchance“: Wenn ein Spieler am Ball ist, hat er eine „Torchance“. Wenn ich aber einen Zentimeter am Ball vorbeirutsche und dabei zwei Meter vom Tor entfernt bin, zählt das nicht als „Torchance, weil ich den Ball nicht berührt habe.

Wenn man hingegen an der eigenen Torlinie steht und den Ball schlägt, also einen klassischen „Clearingstoß“, unkontrollierten Stoß, ausführt, und „Kyrill“ kommt und den Ball ins Tor bläst, hat man theoretisch eine „Torchance“, weil man am Ball war. Auch, wenn diese vielleicht in dem Fall mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:10 Millionen eintritt (lacht). Aber wer legt fest, wo das ganze anfängt und wo es aufhört? Natürlich hat man ein Gespür dafür, aber im Allgemeinen ist es subjektiv. Deswegen haben wir eben eine gewisse Zeit gebraucht, um die Termini entsprechend zu vereinheitlichen. Das müssen die Studierenden erstmal lernen. Dann werden sie eingewiesen. Jede/-r Mitarbeiter/-in bekommt einen eigenen Laptop mit der entsprechenden Software. Wir haben eine eigene Software mit eigenen Tools entwickelt.

Was ist neben dem Beherrschen der Fachsprache wichtig? Wie sieht die Aufnahmeprüfung aus?

Motivation ist die Grundvoraussetzung, um im Analyseteam aufgenommen zu werden. Wenn wir merken, dass jemand nicht zuverlässig sind, ist er oder sie raus. Man kann ja auch nicht einfach mal so ein Länderspiel verlegen. Wir hatten schon den Fall, dass wir im Vorfeld 60 Leute hatten, von denen 30 übrig geblieben sind. Das waren dann aber diejenigen, auf die wir uns hundertprozentig verlassen konnten. Zudem muss jeder, der bei uns mitmacht, schon mal im höheren Amateurniveau gespielt haben und auch einige Grundkenntnisse in diesem Bereich haben. Dahingehend haben wir interessanterweise mehrfach beobachtet, dass jemand, der selbst in der Landes- oder Bezirksliga gespielt hat, besser war als jemand, der selbst in der Regionalliga aktiv war. Denn diese haben das ganze oftmals nicht so ernst genommen.

Bei der Aufnahmeprüfung müssen die Bewerber/-innen unter bestimmten Gesichtspunkten ein Spiel analysieren. Diese Tests werden auch während der Mitarbeit regelmäßig wiederholt und die Studierenden werden aus- und fortgebildet. Es ist keine Hexerei. Manchmal sind Studierenden mit Spielszenen gekommen, die ihnen selbst gefallen haben. Das war auch immer ganz schön zu beobachten, weil sie dadurch teilweise sehr kreativ geworden sind.

Was gefällt Ihnen am Meisten daran, Spiele zu analysieren?

Ich glaube, man sieht ein Spiel ganz anders. Man schaut grundsätzlich auf taktische Analysen. Mir fällt es immer schwer, ein Spiel völlig unbedarft zu gucken, ob ich jetzt ein Spiel in der Kreisklasse betrachte, oder ob ich mir das Europa League-Finale des FC Liverpool ansehe. Ich schaue es immer unter taktischen Gesichtspunkten und immer wieder im Vergleich zur deutschen Fußballnationalmannschaft: Was ist gut daran, was weniger? Natürlich ist bei den meisten vieles schlechter (lacht). Es geht dabei nicht um das technische Vermögen des Einzelnen, sondern um das gesamtmannschaftliche Verhalten. Oder eben auch um Körpersprache, denn die Psychologie spielt ja doch eine sehr starke Rolle. Das hat mich zum Beispiel maßlos gestört beim Spiel des FC Bayern gegen Atletico Madrid: Wenn man eine Viertelstunde vor Schluss noch ein Tor schießen muss und zum Einwurf geht, anstatt da wirklich zum Einwurf zu sprinten und das Spiel schnell zu machen und da jede Sekunde herauszuholen. So etwas ist für mich Körpersprache, Willenssache und eine Mentalitätsfrage. Ich glaube, dass das bisher noch viel zu wenig erforscht ist und dass darauf noch viel zu wenig Wert gelegt wird. Theoretisch hatten wir sogar zum Ziel, biomechanische und motorische Elemente zu analysieren und zu schulen: Wenn z.B. ein Verteidiger gegen Ronaldo spielen musste und wir analysiert hätten, dass er mit Vorliebe den „Übersteiger“ macht, dann sollte ein Verteidiger im Training die Finte genauso üben. Denn wenn ich das über das spinalmotorische System selbst machen kann, kann ich natürlich im peripheren Sehen und im Ansatz viel früher erkennen, wenn so eine Bewegung eingeleitet wird, was der Gegner vorhat. Und das sind natürlich hochwissenschaftliche Sachen. Soweit sind wir leider noch nicht. Oder vielleicht zum Glück. Sonst wäre alles sehr kongruent und dann käme vielleicht gar kein Spiel mehr zustande. Auf der anderen Seite: Alle Statistiken und Spielanalysen helfen sicherlich nicht, aus den berühmten Ackergäulen Rennpferde zu machen. Aber ich glaube, je gleicher die Mannschaften sind und je höher deren Niveau ist, umso mehr sollte man die Möglichkeiten nutzen, die Spielanalysen bieten. Das können eben die entscheidenden Prozente sein. Wenn ich mich an ein Spiel gegen Spanien erinnere: Wir hatten 800 Seiten und zig DVDs über diesen einen Gegner. Er wurde regelgerecht „auseinandergenommen“, sodass wir alles über ihn wussten. Hansi Flick und das Team um Chefscout Urs Siegenthaler mussten das alles lesen und daraus ein Exzerpt für Joachim Löw zu machen, das war schon eine Aufgabe. Der Trainer musste natürlich wissen, was noch alles in den 800 Seiten stand. Dafür musste er auch ein Verständnis entwickelt haben.

Arbeitsschwerpunkt und Mannschaftsbesprechungen

Was interessiert die Trainer und Urs Siegenthaler am Meisten? Worauf wird der Schwerpunkt bei den Spielanalysen gelegt? Was genau steht inhaltlich auf den zwei oder drei der 800 Seiten?

Es geht um rein qualitative Fragen: Wie ist der Spielaufbau einer Mannschaft, d. h. wie werden Angriffe eingeleitet? Gibt es dahingehend Muster? Läuft das ganze über bestimmte Personen? Wie verhält sich ein Team, wenn es den Ball verloren hat? Wie reagiert es, wenn es zurückliegt? Wie ist das Verhalten der gesamten Abwehr, wie ist das der Stürmer – gehen sie mit zurück, helfen sie sich gegenseitig? All diese ganz normalen Aspekte eigentlich. Wir haben alles anhand von Videomaterial belegt.

Werden die Analysen dann auch auf die einzelnen Positionen aufgeteilt? Im Film „Deutschland. Ein Sommermärchen“ gibt es z. B. eine Sequenz, in welcher Joachim Löw ausschließlich mit den Verteidigern eine Sitzung hat und darin Videos bespricht…

Das ist das Schöne, dass er das so macht. Vor einem Länderspiel kommt in der Regel Urs Siegenthaler mit seinem Team und erklärt genau, wie die gegnerische Mannschaft spielt. Dann nimmt er sich beispielsweise noch einmal die Abwehrspieler heraus und bespricht mit ihnen, wie das Aufbauverhalten, das Sturmverhalten des Gegners ist. Anschließend setzt er sich mit den Angreifern zusammen und bespricht das gegnerische Abwehrverhalten im Detail. Das wird wirklich in diesen Blöcken gemacht. Im Sommer 2006 hat danach Joachim Löw eine Mannschaftsbesprechung einberufen und erstmal die eigene Taktik vorgestellt. Anschließend hat er den Sturm herausgegriffen und den Jungs gesagt, wie sie spielen sollen. Das gleiche hat er mit der Abwehr etc. gemacht. Und dann kam erst Jürgen Klinsmann als Cheftrainer.

Diese Aufgabenteilung ist schon sehr markant. Ich denke, dass sich Trainer, die im Rahmen der Spielvorbereitung alles selbst machen, selbst verschleißen und abnutzen. Wenn Jürgen Klinsmann vor den Spielen bei der WM 2006 nochmal die wichtigsten taktischen Elemente genannt hat und für Motivation gesorgt hat, dann war das meines Erachtens insgesamt eine gute Aufteilung der Aufgaben im Trainerstab.

Zur Sicht deutscher Profitrainer und Klinsis Gummibändern

Welche Erfahrungen haben Sie hinsichtlich der Spielanalysen mit den Trainern der deutschen Profiligen gemacht?

Was ich leider immer wieder festgestellt habe: Oft wird heutzutage von den „Laptop-Trainern“ gesprochen. Klar, die Entwicklung geht in diese Richtung, aber in der Bundesliga wird in dem Bereich noch viel zu wenig gemacht. Da kommt oft noch der Vorwurf an uns: „Ja, ihr mit eurer Nationalmannschaft, wenn ihr im halben Jahr ein paar Spiele habt, da habt ihr Zeit euch darauf vorzubereiten. Wir spielen alle drei Tage, das geht gar nicht“. Ich sage dann nur: „Liebe Kollegen, was ist bei einer EM oder WM? Da spielen die Jungs auch alle drei Tage und die Spiele werden trotzdem genauso vorbereitet“.

Haben Sie in der Hinsicht seit der WM 2014 eine veränderte Einstellung bei ihnen wahrgenommen?

Nein. Der Trend bei den Trainern ist der, den man auch von Seiten der Nationalmannschaft sehr begrüßt: diese Tuchels, Nagelsmänner und andere junge Trainer. Das sieht man natürlich schon sehr gerne. Denn es ist nicht damit getan, dass jemand hundertmal in der Nationalmannschaft gespielt hat und dann Trainer wird. Sicherlich kann dieser auch ein guter Trainer sein, aber ich finde einfach, man muss heute – und das ist meiner Meinung nach immer noch der ganz große Verdienst von Jürgen Klinsmann – einen Weit- und Durchblick haben. Wenn er damals nicht gekommen wäre, wäre der DFB in meinen Augen vielleicht auch noch nicht so weit wie heute!

Wenn man allein die Tatsache betrachtet, dass er Fitnesstrainer dazugeholt hat.

Genau. Ich erinnere mich daran, als Jürgen Klinsmann und Joachim Löw bei uns in Köln waren und aus Motivationsgründen mit den Studierenden gesprochen haben. Ich habe Jürgen Klinsmann damals gesagt, dass ich es absolut super finde, was er macht. Ich meine, er hat nichts anderes gemacht, als im Leistungssport üblich war. Aber im Fußball eben nicht. Ich habe ihm verdeutlicht, dass wir hier an der Sporthochschule Köln, der renommiertesten Sporthochschule, sind, aber dass ich nicht verstehen würde, weshalb sich die Nationalmannschaft einen Fitnesstrainer aus den USA nehmen würde. Da erklärte er mir: „Ja, Herr Buschmann, das ist relativ einfach. Ich bin von heute auf morgen ins kalte Wasser geschmissen worden und ich wusste genau, was ich wollte und wen ich wollte. Mit dem FC Bayern haben wir uns zweimal bei Mark Verstegen in den USA fit machen lassen“. Dadurch wusste er, wie Mark Verstegen arbeitet und dass er sich auf ihn verlassen konnte. Da musste ich sagen: „Ja, ok“. Aber diese Antwort wollte ich erstmal haben.

Jürgen Klinsmann wurde ziemlich stark von der Presse kritisiert, als er mit seinen Gummibändern ankam. Aber wenn man Dritter wird, kann das nicht so falsch gewesen sein…

Aber überhaupt das Schaffen von diesen Grundstrukturen, das Hinzuholen von Spezialisten, vielen Trainern und auch Dinge wie die Spielanalyse, das ist nur durch Jürgen Klinsmann und Co. geschehen. Früher hat man in der Vorbereitung auf ein Turnier auf die routinierten DFB-Trainer gebaut. Diese hatten sicherlich sehr viel Erfahrung. Aber man kann nicht nur mal fünf DFB-Trainer zu fünf Spielen schicken, die dann eine mehr oder weniger oberflächliche qualitative Analyse von einem Spiel abliefern. Ich denke diese Zeiten sind vorbei. Und wenn man in der heutigen Zeit diese Möglichkeiten hat wie z. B. mit einer Universität zusammenzuarbeiten – wer das nicht nutzt, der handelt fahrlässig. Und wenn es nur das letzte Prozent ist, das damit herausgeholt wird. Aber das letzte Prozent kann entscheidend sein. Das berühmteste Beispiel ist Jens Lehmanns Elfmeterzettel. Wir waren die ersten, die versucht hatten, die Schützen statistisch auszuwerten. Wenn man eben weiß, dass man in einer Stresssituation – und dazu gehört eben ein WM-Viertelfinale – dass man da zu 99% in die vom Schützen bevorzugte Ecke schießt, dann ist das eben so. Oder 2006, das fand ich wunderbar: Vor dem WM-Spiel gegen Schweden rief mich Urs Siegenthaler an und sagte: „Jürgen, wir haben keine Informationen über Larsson, wohin der die Elfmeter schießt“. Ich meinte darauf: „Ja, dann haben wir das nicht analysiert“. Aber wir hatten eben Kontakte nach Schweden und Barcelona und haben dort angerufen. Dadurch haben wir herausbekommen, dass er als Schütze so perfekt war, dass er grundsätzlich reagierte und nicht agierte. Er wartete immer, bis der Torwart etwas machte, dann schoss er z.B. in die andere Ecke. Also haben wir den Tipp weitergegeben, dass sich Jens Lehmann nicht bewegen soll. Und wie es der Zufall wollte, kam es zum Elfmeter, Lehmann ist wie versteinert stehen geblieben und was hat Larsson gemacht? Er wusste nicht, was er tun sollte und hat den Ball über das Tor geschossen. Wenn man so etwas bei einer WM erreicht, dann sitzt man schon zuhause im Fernsehsessel und macht die „Becker-Faust“ (lacht).

Kritik an den Profitrainern: Die Datenbank blieb ungenutzt

Man muss zwischen den Gegnerbeobachtungen und der Suche nach passenden Spielern für das eigene Team differenzieren. Welchen Umfang hatte Ihre Datenbank?

Wir haben das – aus wissenschaftlichen Gründen – parallel gemacht. Wir haben sogar die Copa Libertadores analysiert und alle U-Turniere sowie die Afrika-, Asien- und Südamerikameisterschaft. In der Datenbank war alles drin, wir hatten um die 15.000 Spieler ausgewertet, und über 10.000 Spiele. Wenn jetzt ein Trainer gesagt hätte, dass kurzfristig doch Meyer anstatt Müller in der gegnerischen Startelf steht und er keine Informationen über diesen hätte, hätte er nur Meyer in die Datenbank eingeben müssen und sich dann alles über Meyer in der Datenbank anschauen können – und das inklusive Bilder, nicht nur Daten und Fakten.

Lag der Fokus Ihrer Arbeit wirklich auf den Gegnern oder hat Joachim Löw auch nach Zusammenschnitten der Länderspiele von Per Mertesacker etc. gefragt?

Wir haben eher die Gegner unter die Lupe genommen. Die Analysen der eigenen Mannschaft bilden den Arbeitsschwerpunkt von DFB-Chefscout Urs Siegenthaler. Wenn er z. B. noch ein paar Videoszenen von Per Mertesackers Spielen für Arsenal gebraucht hat, hatte er Zugriff auf unsere Datenbank, wenn ihm die entsprechenden Daten tatsächlich nicht alle durch seine Beobachtungen bzw. vom DFB vorlagen. Wir hatten in der Hinsicht wirklich höchstens mal den Auftrag, im Vorfeld einen Perspektivkader zu beobachten. Aber wenn es um das Stellungsspiel von Mats Hummels etc. ging, war das natürlich die Aufgabe der Trainer (lacht).

Wie kann man sich die Arbeit von Joachim Löw diesbezüglich vorstellen? War es so, dass er Ihnen und Ihrem Team ein Profil vorgegeben hat, wenn er einen neuen Spieler ins A-Team aufnehmen wollte? Oder hat er zusammen mit Urs Siegenthaler die Datenbank durchforstet und dort nach Spielern gesucht, die in die Nationalelf passen?

Wir haben vor einer EM oder WM hier und da zu einem vorgegebenen Perspektivkader, der um die vierzig Spieler umfasste, eine Analyse abgegeben. Aber unsere Datenbank wurde vom DFB sonst kaum genutzt. Wir haben auch mit drei, vier Bundesligisten zusammengearbeitet, die relativ wenig Geld für die Datenbank ausgeben mussten. Deren Trainer hätten hineingucken können und beispielsweise nach einem rechten Verteidiger, der ein Linksfuß ist, 1, 70 m groß ist und pro Spiel meinetwegen zehn Flanken schlägt, suchen können. Dann hätte der PC vielleicht zwanzig Spieler gefunden, die die Kriterien erfüllen. Davon wären vielleicht zehn zu teuer gewesen, dann hätte es vielleicht noch fünf Spieler gegeben, die der Trainer aussortiert hätte und dann wären z. B. drei Spieler aus den skandinavischen Ligen und zwei aus der Bundesliga in der engeren Auswahl gewesen. Die hätte sich der Trainer näher anschauen können und da wären anhand der haargenauen Analyse der Datenbank zwei oder drei Spieler übrig geblieben. An der Stelle hätte der Trainer dann seine Scouts hinausschicken sollen – und meines Erachtens auch wirklich erst zu diesem Zeitpunkt, um die Spieler genauer beobachten zu lassen. Bis dahin hätte sich der Verein schon mindestens 100.000 Euro sparen können.

Aber kein Mensch hat das gemacht. Keiner. Obwohl sie die Datenbank zur Verfügung hatten. Die Clubs haben sich immer noch für die Spieler entschieden, die ihnen per DVD und mit der Ausdrucksweise „Ja, ich hab einen guten für dich, der macht in der nächsten Saison zehn Buden“ empfohlen wurden. Dafür haben sie dann fünf oder zehn Millionen Euro bezahlt. Das war für mich einfach unverständlich.

Woran, denken Sie, lag das hauptsächlich? Ist es so, dass viele Trainer nicht von ihrer Arbeitsweise, die sie schon jahrelang betreiben, abweichen wollen und somit schlichtweg skeptisch gegenüber Neuem sind? Oder haben sie kein Vertrauen in die Datenbank? Das Ganze ist ja in gewisser Weise wirklich unverständlich.

Ja, das passte nicht zusammen. Das wollte man nicht. Man hatte zum Beispiel Vertrauen in jemanden, der schon dreimal einen guten Spieler verkauft hat und dann hat man eben auch das vierte Mal auf denjenigen gehört.

Quergefragt

Gibt es eine Anekdote aus Ihrer Analysezeit?

Ja, aber eine eher negative. Die TV-Sender müssen ihre Sendungen vor den Fußballspielen immer füllen. Vor dem Spiel gegen Griechenland bei der EM 2012 war wirklich jeden Tag die Tagesschau, das Heute-Journal etc. bei mir. Da wollte ich unsere Arbeit bzw. vor allem die Arbeit der Studierenden in den Mittelpunkt stellen. Also habe ich erzählt, dass die Studierenden einige Nachtschichten einlegen mussten, weil Griechenland nicht wirklich auf unserem Zettel stand. Das heißt, dass wir nicht damit gerechnet haben, dass wir gegen sie spielen würden. Ich habe gesagt, dass wir uns eben mehr auf die anderen Gegner konzentriert hätten und deshalb in den vergangenen Tagen mehr arbeiten mussten. Das kam überall im Fernsehen. Es ist natürlich klar, dass der Trainerstab sehr aufgeregt war, als er das gehört und gelesen hat. Denn damit haben wir Griechenland stark gemacht, schließlich kam das so herüber wie: „Euch hatten wir gar nicht auf dem Zettel, euch haben wir gar nicht beobachtet“. Das war vom Psychologischen her nicht gut. Ich als Mitarbeiter erzählte so etwas und da war man natürlich stinkesauer. Ich wollte ja eigentlich nur hervorheben, wie gut und wie viel die Studierenden gearbeitet hatten. Da musste man wirklich jedes Wort auf die Goldwaage legen (lacht). Vor allem, wenn das auf dieser Ebene geschieht. Das hatte wirklich jeder mitbekommen, weil ja jeder die Tagesthemen guckt. Eine Stunde vor dem Spiel wurde das auch nochmal erwähnt. Das war wirklich fürchterlich.

Jetzt ein kleiner Themenwechsel. DIE MANNSCHAFT steht immer im Vordergrund, stets wird von der Nationalmannschaft gesprochen. Aber haben Sie auch die Spiele der Jugendnationalmannschaften analysiert?

Als die Philosophie der Nationalmannschaft feststand, wurde diese auch den Trainern der U-Teams zugänglich gemacht. Jedoch war es damals nicht immer möglich, dass diese auch von ihnen umgesetzt wurde. Heute ist das meiner Meinung nach sehr viel besser. Die Kooperation zwischen den Jugendnationalteams und dem A-Team hat sich äußerst positiv entwickelt und ist weiter fortgeschritten.

Wie lief die Zusammenarbeit mit U20-Cheftrainer Frank Wormuth, der zugleich für die Fußball-Lehrer-Lehrgänge verantwortlich ist? Hierbei fließen Spielanalysen sicherlich zu einem nicht geringen Anteil ein…

Die Zusammenarbeit mit Frank Wormuth war immer gut. Ich konnte regelmäßig themenspezifische Vorträge vor den angehenden Fußball-Lehrern halten. Trotzdem wurde das ganze methodisch nicht so schnell in der Form aufgebaut, wie ich mir das durchaus hätte vorstellen können. Anfangs haben Urs Siegenthaler und ich ab und an über Spielanalysen referiert. Es hat einige Zeit gedauert, bis man die Thematik wirklich didaktisch/methodisch gut in den Lehrgang integriert hatte.

Waren Sie selbst in Ihrer Zeit als Leiter des Instituts für Scouting-Studien an der DSHS während der Spiele stets in Köln oder haben Sie diese mitunter live im Stadion angeschaut?

Ich war 2008 bei der EM in Österreich und 2006 beim Viertelfinale in Berlin gegen Argentinien. Bei jedem Turnier habe ich mir ein oder zwei Spiele angeguckt, allerdings nicht operativ, sondern nur als Gast. Ich habe meine Mitarbeiter immer im Hintergrund arbeiten lassen. Das sind dann stets min. zwei Studierende, die dafür zuständig sind. Nach den Spielen habe ich mir die Berichte vorlegen lassen und bin sprachlich und wissenschaftlich nochmal drüber gegangen, bevor sie abgeschickt wurden. Operativ habe ich in der Zeit kaum mehr gearbeitet, das haben wirklich die Studierenden übernommen.

Wie sehen die Berufschancen für Spielanalystinnen und Spielanalysten aus?

Wenn ich jetzt auf die vergangenen zehn Jahre zurückblicke, hatten wir mindestens zwanzig Studierende im Team, die inzwischen hauptberuflich im Spielanalysebereich tätig sind. Meiner Meinung nach müsste jeder Bundesligist eine mindestens sechsköpfige Spielanalyseabteilung haben, wobei die dann sowohl die Gegneranalyse, die Analyse der eigenen Mannschaft, als auch das klassische Scouting machen sollten. Wir haben die erste und zweite deutsche Liga von 2007 bis 2012 komplett analysiert und alle Ergebnisse in einer Datenbank festgehalten. Das war eine rein statistische Auswertung, in der wirklich alles drin war, und die wirklich kein Mensch außer uns hatte.

Vielen Dank für das spannende und sehr informative Interview!

Sehr gerne.