Rouven Sattelmaier: „Ich würde wieder nach England gehen“

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Rouven Sattelmaier nahm sich nach dem Training Zeit für ein Interview. Foto: Lisa Schatz

Bradford. Meinen diesmaligen Gesprächspartner, Rouven Sattelmaier, und mich verbindet eine kleine Geschichte. Von 2007 bis 2010 spielte Rouven für den SSV Jahn, von dem ich zu dieser Zeit selbst Fan war. Danach zog es ihn in die große Fußballwelt: Zum FC Bayern München. Es folgten die Stationen 1. FC Heidenheim und Stuttgarter Kickers. Inzwischen spielt er im englischen Bradford. Als ich meinen Englandurlaub plante, kam mir der Einfall, bei seinem Training vorbeizuschauen und ihn zu interviewen. Trotz meines 2008 im Fanschießen gegen ihn verwandelten Elfmeters erklärte er sich dazu bereit und erzählte mir von seinen Eindrücken des englischen Fußballs…

Rouven, wie hast du dich in Bradford eingelebt?

Im Verein ganz gut. Es gibt definitiv einen großen Unterschied zu Deutschland. Von der Lebensqualität und von der Lebensart her zwar kaum. Aber das Wetter! Was fehlt, ist die Sonne. Es ist oft grau hier. Der Winter war extrem mild, wir mussten nur dreimal auf Kunstrasen trainieren. Ansonsten hatten wir immer sechs, sieben, acht Grad.

Wie schnell wurdest du von der Mannschaft selbst integriert?

Das ging fix. Es ist auch wieder eine andere Art. In Deutschland geht man oft essen bei den kleineren Vereinen. Hier frühstücken wir gemeinsam: Toast, Cereals und Eier können wir uns selbst machen. Also nix besonderes. Dann haben wir Training und Mittag gegessen wird auch mit dem Team, das ist Pflicht. Da hat man dann schon Kontakt.

Wie gefällt dir die Stadt von der Kultur her, bekommst du da überhaupt etwas mit?

Von Bradford selbst wenig. Kein Spieler von uns wohnt in Bradford. Das ist eine ganz andere Mentalität als in Deutschland. Dort ziehen meist alle in den Ort, in dessen Verein sie spielen. Hier ist es aber so, dass so viele Vereine innerhalb einer Stunde Fahrtzeit erreichbar sind, sodass alle Spieler ihr eigenes Haus haben. Die meisten fahren rund eine Stunde zum Training. Drei Spieler von uns wohnen in Leeds: Tim (Timothée Dieng; Anm. von LS), Mark (Marshall; Anm. von LS) und ich. Alle anderen kommen aus Manchester, aus dem Norden. Sie denken: „Nee, ich habe ein eigenes Haus. Ich brauche hier keine Wohnung“. Sie sagen, dass es eben zwanzig Vereine innerhalb einer Stunde zur Auswahl gebe, weil die Städte so nah zusammen seien. In Deutschland kann man froh sein, wenn man mal vier Vereine innerhalb einer Stunde erreicht. Im Westen geht’s. Da hat man vier, fünf Clubs.

Was war für dich die größte Umstellung, als du nach England gekommen bist?

Definitiv die Sprache. Die habe ich komplett unterschätzt, gerade mit dem Akzent. Das habe ich mir viel einfacher vorgestellt. Ich dachte: „Ja, Englisch, kein Problem. Die basics habe ich in der Schule gelernt, danach auch noch und ich habe die Sprache immer wieder im Urlaub angewandt“. Aber wenn man hier ist, hat das mit dem gelernten Englisch gar nichts mehr zu tun. Die Menschen haben einen so krassen Akzent und sie reden deutlich schneller. Es ist wirklich gar kein Oxford-Englisch, wie man es kennt. In den Staaten ist es einfacher, die Menschen zu verstehen.

Was gefällt dir hier gut, was eher nicht?

Die Stadt Leeds ist schon schön. In Manchester war ich auch schon, in Liverpool nur zu den Spielen. Aber Leeds ist wirklich extrem busy. Dort leben knapp 60.000 Studierende. Da ist immer was los. Stellenweise ist die Stadt zu voll, aber zum Leben ist es dort echt super, wenn man so eine Stadt mag. Was nervt, ist der Stau. Ab zwei Uhr ist alles dicht. Wenn wir länger oder zweimal am Tag trainieren und ich danach heimfahre, brauche ich fast eine Stunde. Es ist echt besser, mit dem Zug zu fahren, da ist man gleich in der Innenstadt von Leeds (22 Minuten; Anm. von LS). Das ist aber nur nach dem Training so. Die Hinfahrt morgens ist super, da brauche ich zwanzig Minuten.

„Im vergangenen Jahr habe ich gelernt, wie dreckig der Fußball sein kann“

Wenn man sich deine Laufbahn anschaut: Du bist von Regensburg zum FC Bayern München gewechselt, von dort aus nach Heidenheim und zu den Stuttgarter Kickers. Im Anschluss ging’s nach England. Wie hast du dich an den einzelnen Stationen charakterlich weiterentwickelt?

Ich glaube, man nimmt von überall etwas mit: Von den Trainern, von vielen Mitspielern. Oder auch, was in der nahen Vergangenheit passiert ist: Ich glaube, dass das vergangenen Jahr für mich von extremen Höhen und Tiefen geprägt war. Also, was da abging! Da habe ich nochmal sehr viel gelernt im Fußball. Vor allem auch nochmal, wie dreckig das Geschäft sein kann. Das natürlich auch. Das war echt vogelwild. So wie meine letzte Saison in Deutschland lief – das hört sich jetzt vielleicht hart an – aber es war vielleicht gerecht, dass wir mit den Stuttgarter Kickers abgestiegen sind, auch wenn es nur wegen eines Tors war und wir eigentlich eine super Rückrunde gespielt haben und sich die Mannschaft den Klassenerhalt verdient gehabt hätte. Aber wenn man’s im Nachhinein betrachtet, sollte es einfach nicht sein. Wenn man so absteigt, also mit einem Tor, ist das schon bitter. Und das wirklich in der letzten Sekunde. Und wenn man dann sieht, wie viele klare Torchancen wir das ganze Jahr über hatten und die nicht genutzt haben! Wenn man überlegt: Nur ein Tor in 34 Spielen, ist das eigentlich Wahnsinn. Aber: Das ist Fußball.

„Ich würde definitiv wieder ins Ausland gehen“

Würdest du jedem Spieler raten – wenn er die Chance hat – ins Ausland zu gehen?

Eine ganz schwierige Frage. Viele haben mir geschrieben: „Oh, super, cooler Wechsel, würde ich sofort machen“. Manche haben mir mitgeteilt: „Junge, was ist mit dir los? Wie kannst du das machen?“. Es war komplett unterschiedlich. Man muss der Typ dafür sein. Ich war sofort derjenige, der wusste, ich mache das, weil ich das schon immer irgendwie wollte. Ich weiß nicht warum, aber ich wollte schon immer in England Fußball spielen. Weil es eben doch irgendwie magnetisiert. Ich würde es definitiv wieder machen.

Worin sich der englische Fußball vom deutschen unterscheidet…

Was hast du in Bradford nochmal mitbekommen, inwiefern sich der Fußball hier vom deutschen Fußball unterscheidet? Vielleicht auch dahingehend, was du an der Anfield Road mitbekommen hast?

Die Premier League kann man mit der League One gar nicht vergleichen, aber ich glaube, dass die Championship auch nochmal ein riesen Unterschied zu den beiden ist. Wir spielen einen sehr einfachen Fußball in Bradford, wenn das ein deutscher Fußballfan anschauen würde. Wir versuchen das Spiel – wie im deutschen Fußball – auf Ballbesitz zu halten und wir dominieren ihn mit einfachen Mitteln. Die anderen Mannschaften – es ist wirklich kick and rush – haben super Plätze, da wären die deutschen Vereine neidisch. Aber es wird halt trotzdem nur Langholz gespielt. Selbst, wenn der Innenverteidiger frei ist, interessiert das keinen. Der Torwart haut das Ding vor, am besten soweit es geht, am besten noch in die gegnerische Box. Und wenn der gegnerische Torwart den Ball abfängt, applaudiert der Trainer noch und sagt: „Super langer Ball“. Da würde sich ja jeder Trainer in Deutschland an den Kopf fassen und sagen: „Junge, wenn du das noch zweimal machst, dann nehm ich dich raus, weil wir sonst jeden Ball verlieren“. Aber das ist eine andere Mentalität. Bei den anderen Mannschaften ist auch viel auf die Körpergröße ausgelegt. Bei uns weniger, weil wir versuchen zu spielen. Aber uns fehlt der Killerinstinkt. Also, wir haben zwar viel im Ballbesitz dominiert. Wir hatten gar kein Spiel, in welchem wir keine Chance gehabt hätten. Aber uns fehlt es einfach, den Ballbesitz, den wir mehr haben, in Tore umzusetzen. Das war das ganze Jahr über unser Problem und das sind auch die Punkte, die uns fehlen.

Inwieweit oder hat sich überhaupt dein Blickwinkel auf den Fußball verändert, seitdem du in England bist? Hier ist der Fußball ja eher „Religion“…

Er ist hier schon anders. Es ist schwer zu erklären. Ich glaube, man muss einfach mal eine Zeit lang in England sein und sich die Spiele angucken, um das zu verstehen. Das ist etwas ganz anderes. Auch von den Fans her. Im Vergleich zu Deutschland ist die Stimmung in den Stadien hier schlechter. Bei einem 0:0 oder in einem Spiel, bei dem es wenig Chancen gibt, ist die Atmosphäre hier furchtbar. Das erste Spiel, das ich mir in Liverpool angeschaut habe, war Liverpool gegen ManU. Das war grauenhaft. Erstens war es ein schlechtes Spiel, was ja mal vorkommen kann, aber auch von den Fans her… Hier fehlen die Ultras. Aber wenn ein Spiel gut läuft und es auf einer Seite sehr viele Chancen gibt, wie beim 4:1 von Liverpool gegen Stoke, dann gehen alle 60.000 im Stadion mit. Bei uns sind’s halt dann 18.000 Zuschauer, die mitjubeln. In Bradford gibt es einige ultraorientierte Fans, aber das ist kein Vergleich zu Deutschland. Sie versuchen zwar durchwegs Stimmung zu machen, aber es ist wirklich extrem abhängig vom Spielgeschehen, wie sie reagieren oder wie sie drauf sind. Sie kommen sehr kurzfristig vorm Spiel ins Stadion, am besten fünf Minuten davor. Wenn der Schiedsrichter abpfeift, ist das halbe Stadion oder mehr bereits leer. Das ist einfach eine komplett andere Mentalität. Auch bei den Spielern. Wir gehen nur ganz selten nach den Partien zu den Fans. Also nicht so, wie man das in Deutschland kennt: Wenn man gewinnt, läuft man zu den Vereinsanhängern.

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Rouven Sattelmaier unterhielt sich am Ende der Saison 2008/2009 mit einem Jahnfan. Foto: Lisa Schatz

Findest du das in Deutschland besser?

Das kommt natürlich darauf an: Wenn man gewinnt, macht man das gerne. Wenn man verliert, weniger (lacht). Ich bin der Meinung: Einerseits gehört’s dazu, aber die Engländer kennen’s halt einfach nicht. Die Fans fordern das somit gar nicht. In Deutschland wird’s ja erwartet: „Bedankt euch mal bei den Fans, die bezahlen hier Eintrittsgelder!“. Hier in England sind die Fans ja sofort weg. Da geht man zum Auslaufen und mindestens das halbe Stadion ist leer.

 

46 Spiele plus 3 Cups

Wie findest du das Training hier?

Es ist auch anders. Wir trainieren deutlich weniger, weil wir etliche Spiele übers Jahr verteilt haben. Es gab eine Zeit, da hatten wir sechs englische Wochen am Stück. Da kann man gar nicht trainieren. Man kann die Mannschaft im Endeffekt gar nicht mehr stark verändern oder umstellen oder irgendetwas Taktisches einüben, weil es schlichtweg nicht möglich ist. Weil man gar nicht die Zeit dafür hat. Dann ist es wirklich nur noch trainieren, regenerieren und dann ist man schon wieder unterwegs. Ich glaube das ist ein riesengroßer Unterschied zu Deutschland. Es gibt ja auch keine Winterpause. Für mich war das interessant. Meine Teamkameraden kennen es gar nicht anders, die sind es gewohnt. Ich bin bislang nicht in meiner Heimat gewesen, es gab zeitlich keine Möglichkeit, weil wir nicht frei hatten. Wir haben jedes Wochenende gespielt, plus die englischen Wochen. In der Liga hatten wir 46 Spiele plus drei Cups. Das war Wahnsinn. Wir haben teils freitags oder samstags und am je darauf folgenden Montag gespielt. So etwas würde es in Deutschland nicht geben.

Nun zum Leben an sich in Leeds. Wie lief die Phase des Einlebens?

Wie gesagt: Ich habe über den Club schnell Leute kennen gelernt. Da hat man es in der Branche schon einfacher, als wenn man im Büro sitzen würde. Bradford ist schon eine reine Arbeiterstadt. Nach dem, was ich gehört habe, war es vor einigen Jahren sehr schwierig in der Stadt. Ihr und dem Verein ging’s gar nicht gut. Jetzt ist es besser, alles befindet sich gerade im Aufbruch. Bradford verändert sich, es wird investiert und der Verein entwickelt sich auch weiter. Das sieht man jetzt an den schon mehr als 17.000 verkauften Dauerkarten für die kommende Saison.

Leeds ist eine super Stadt. Man hat alles: Etliche Restaurants und Bars. Die Mentalität der Menschen ist ein bisschen anders. Sie gehen mehr nach draußen. Was ganz extrem ist und was mir jeder gesagt hat: Anfang des Monats ist die Stadt immer rappelvoll, weil alle ausgehen, sobald sie Geld bekommen. Da gehen sie alle essen. Zum Ende des Monats merkt man: „Oh, jetzt wird’s knapp“ und es ist nicht mehr so viel los. Wenn man um 17 Uhr durch die Stadt läuft, ist es in den Pubs irre voll. Wenn man in meiner deutschen Heimatstadt durch die Innenstadt geht, sind vielleicht sechs, sieben Pubs in einer Straße. In Leeds sind alle nebeneinander und diese sind alle voller Leute. Ja, so eine Ausgehmentalität ist schon vorhanden.

„Im Fußball gewöhnt man sich an alles sehr schnell“

Wie war die Umstellung für dich? Du kamst vom FC Bayern nach Heidenheim und nach Stuttgart. Jetzt bist du bei einem kleinen englischen Verein. Wie schnell konntest du dich anpassen?

Die Umstellung von Regensburg zum FC Bayern war wirklich extrem, weil ich damals wirklich in das Business reingekommen bin. Da ist der Fußball dann echt nur noch Business. Da zähle nur noch ich selbst. Fertig, aus. Das war – ganz ehrlich – am Anfang auch mein Problem, weil ich das aus Regensburg nicht gewohnt war. Dort waren wir eine Mannschaft, haben uns gegenseitig geholfen, ob privat oder beruflich. Dann kam ich zum FC Bayern und dort zählte nur ich. Einzelkämpfer. Aber im Fußball gewöhnt man sich an alles schnell. Man gewöhnt sich daran, dass man jede Woche vor 3.000 Menschen trainiert. Das geht extrem schnell. Genauso schnell habe ich mich jetzt hier an England und die Art hier gewöhnt. Ich meine, das liegt an mir selbst, wie ich bin. Andere haben da vielleicht größere Probleme, aber ich hatte da jetzt nie ein Problem damit: Mich zu motivieren – beim Wechsel vom FC Bayern nach Heidenheim zum Beispiel. Eigentlich gar nicht. Heidenheim war wieder eine neue Herausforderung, weil wir aufsteigen mussten. Das ist immer wieder etwas anderes.

Wie hast du die Zeit in Heidenheim erlebt und was hast du daraus mitgenommen?

Der 1. FC Heidenheim ist ein top geführter Verein, wenn nicht einer der am besten geführten Vereine in ganz Deutschland. Ich bin auch felsenfest davon überzeugt, dass der Verein immer weiter erfolgreich sein wird und immer seinen Weg gehen wird, weil dort einfach jeder Hand in Hand arbeitet. Dort gibt’s niemanden, der aus der Reihe tanzt oder sowas in der Art, sondern da wird immer alles dem Erfolg untergeordnet. Das ist extrem und ich glaube, dass es das selten gibt, dass wirklich jeder Einzelne im Verein alles für diesen gibt. Da gibt’s eine ganz klare Hierarchie, die niemand bricht. Wenn sie jemand brechen würde, wäre das Thema für denjenigen erledigt, dann wäre er gleich raus. Und deswegen funktioniert das da auch. Es ist ein wirklich kleiner Verein und eine kleine Stadt, aber was die Menschen da auf die Beine stellen, das zollt absolut hohen Respekt. Das sage ich ganz ehrlich. Für mich war’s definitiv eine tolle Zeit dort.

Warum Sportpsychologen Rouven eher verwirrten…

Jetzt möchte ich auf das Thema Mentaltraining zu sprechen kommen. Wie sind dahingehend deine Erfahrungen, wie war das hier und auch bei deinen früheren Vereinen? In welchen Clubs hast du mit Sportpsychologen zusammengearbeitet?

Beim FC Bayern hatten wir damals den Philipp Laux. Aber er hat mich als jungen Spieler, wenn er mich angesprochen hat, ein bisschen verwirrt. Ich dachte halt: „Jetzt macht er einen auf Psycho“. Wenn das jetzt der Fall wäre, würde ich ganz anders darüber denken. Dann wäre ich viel relaxter und würde einfach mal über meine aktuelle Situation reden, fertig, aus. Aber damals fragte ich mich: „Stimmt jetzt irgendetwas nicht mit mir oder was passt jetzt nicht?“. In dem Moment hat es mich echt verwirrt. Ich bin aus dem Gespräch herausgekommen und habe mir Gedanken gemacht. Aber je älter man wird (lacht)… Ich glaube, je früher man mit der Thematik in Kontakt kommt, umso mehr ist man daran gewöhnt. Für mich war das damals das allererste Mal. Ich hatte noch nie zuvor mit einem Psychologen Kontakt.

Ich würde das jetzt nicht nur auf Psychologen reduzieren. Wenn du an Elfmeter denkst: Die kannst du ja nicht richtig gut trainieren, aber man kann ja mit Mentaltraining arbeiten…

Ich find’s sehr schwer, einen Spieler dahingehend zu ändern. Vielleicht gibt’s da einen Trick, aber da kenn ich mich wirklich zu wenig aus…

Ich habe mal gelesen, wie das funktioniert mit dem Mentaltraining. Es heißt, wenn man die Augen schließt und an eine saure Zitrone denkt, hat man den Geschmack im Mund. Probier’s mal aus (Rouven schließt kurz die Augen und verzieht das Gesicht; Anm. von LS). Und, schmeckst du’s, dass es sauer ist?

Ja, so leicht (lacht). Aber gut, das machen ja viele. Oder allgemein viele Spieler sprechen davon, dass sie visualisieren. Was wir oft hatten: Also, ich hatte die und die Spielszene schon mal im Kopf. Das gibt’s natürlich schon. Aber wenn man es dann erzwingt, weiß ich es auch nicht. Also, ich glaube, das ist ein ganz, ganz schwieriges Feld im Fußball. Wie gesagt, mich hat es damals eher ein wenig verwirrt (lacht).

In Heidenheim und Stuttgart hatten wir so etwas gar nicht. Es war auch nicht so, dass es geheißen hätte: „Ja, jetzt kommt ein Mentaltrainer für zwei Wochen“. Ich finde, dass das nochmal mehr verwirrt. Dann wird man umso mehr daran erinnert: „Oh, jetzt läuft da irgendetwas schief“, oder: „Wir machen irgendetwas falsch“. Wenn man es gewohnt ist, also vielleicht die jungen Spieler, die jetzt in der U18 oder U19 bei größeren Vereinen spielen, ist das anders. Ich glaube schon, dass der Kopf viel beeinflusst. Man merkt auch bei sich selbst: Man hat eine gute Fähigkeit oder fühlt sich sogar besser als vor zwei, drei Wochen und auf einmal läuft’s nicht: „Ja, warum?“. Dann denkt man: „Hä, ich fühl‘ mich körperlich besser, ich habe doch auch mehr trainiert. Warum läuft’s nicht? Wie ist das möglich?“. Es kann ja nur der Kopf sein, der da entscheidet. Und da die richtige Stellschraube zu finden ist glaub ich echt schwer.

Zukunftspläne

Was hast du für die Zeit nach deiner aktiven Karriere geplant? Hast du einen „Plan B“, studierst du?

Ich hatte ein Fernstudium begonnen und abgebrochen. Bei der Euro-FH. Europäische Betriebswirtschaftslehre. Aber das war wirklich zu krass. Allein das Problem: Ok, ich gehe morgens in die Uni, setze mich von 8 Uhr bis mittags hinein und haue dann ab zum Training. Aber wenn man sich morgens hinsetzt und anfängt, schreibe die ersten Teamkameraden: „Was machst du? Gehen wir Kaffee trinken? Komm früher, gehen wir in den Kraftraum…“. Dann war das Thema durch. Zudem bestand das Problem mit den Prüfungen. Diese waren immer in Duisburg und die offiziellen fanden sogar samstags statt. Es gab Ersatztermine, aber ich hatte genau da zum Teil Spiele. Dann war ich mit dem Lernstoff fertig und musste warten, bis ich den Test schreiben konnte. Ich fing mit dem zweiten Lernstoff an und vergaß wieder einen Teil des ersten. Während meiner Zeit in Heidenheim habe ich entschieden, dass das nicht geht: „Jetzt aktuell ist es unmöglich, da irgendetwas zu machen, um offen und ehrlich zu sein“.

Was planst du für danach oder hast du noch keine konkrete Idee?

Ich strecke meine Fühler ein bisschen aus. Ich lege mich nicht auf den Fußball fest, halte meine Augen und Ohren für alles offen. Es wäre vermessen zu sagen: „Ja, ich werde Trainer“. Wenn man sieht, wie es da läuft… Wenn ich denken würde: „Ach, der nimmt mich dann schon mit, wenn er geht“. Darauf kann man sich nicht verlassen. Wenn es dann passiert, ja, gut. Aktuell könnte ich mir nicht vorstellen, auf die Schnelle einen Trainerschein zu machen.

Danke für die interessanten Ausführungen, Rouven.

Gerne.

Prof. Dr. Jürgen Buschmann und das „Team Köln“: Spielanalysen für die deutsche Nationalmannschaft

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Prof. Dr. Jürgen Buschmann war von 2005 bis 2014 Leiter der Abteilung Scouting-Studien an der Deutschen Sporthochschule Köln. Foto: Buschmann

Team hinter dem Team. Die EM hat begonnen,  Joachim Löw und sein Team arbeiten auf Hochtouren. Doch nicht nur die Mannschaft gibt ihr bestes, auch der Leistung des Teams hinter dem Team sollte großer Respekt gezollt werden. Die Menschen, die im Hintergrund rackern, tragen einen enormen Teil dazu bei, dass die Mannschaft top vorbereitet in die Spiele gehen kann. Einer, der von 2005 bis 2014 zum Team hinter dem Team gehörte, ist Professor Jürgen Buschmann. Sein Spezialgebiet: Spielanalysen. Lest im Anschluss ein spannendes Interview mit dem Mann, der mit dem „Team Köln“ Jogis Gegner knackte…

Herr Professor Buschmann, bitte beschreiben Sie zunächst in Kürze, welche Verbindung Sie zum Fußballsport und zur DSHS haben.

Ich war bis 2014 Dozent an der Deutschen Sporthochschule in Köln und war dort Leiter des Zentrums für Olympische Studien sowie der Abteilung Scouting-Studien. Von 1990 bis 2002 war ich als Dozent im Bereich Fußball tätig. Bis zur dritten Liga habe ich früher selbst gespielt und damit mein Studium finanziert. Anschließend habe ich die Trainerlizenzen gemacht und bis zur dritten Liga als Trainer gearbeitet. Danach habe ich viel im unteren Amateurbereich mitgeholfen und zum Beispiel 1980 das größte Breiten- und Freizeitturnier im westdeutschen Raum mit 150 Mannschaften organisiert.

Klinsis Anruf um 1 Uhr nachts

Wie kam es dazu, dass sie Leiter der Abteilung Scouting-Studien an der Deutschen Sporthochschule Köln wurden?

Eigentlich wollte ich 2005 ein bisschen mit dem Fußball „brechen“. Ich war in ein Alter gekommen, in welchem man mehr für die Wissenschaft tätig sein sollte, und vielleicht mehr Theorie als Praxis gefordert sein sollte. 2005 kam jedoch ein Anruf von Jürgen Klinsmann, der fragte, ob ich mir vorstellen könnte, für die WM 2006 zusammen mit Studierenden ein paar Gegner mit zu beobachten. Die Motivation vor der Weltmeisterschaft im eigenen Lande war sehr hoch und da habe ich natürlich spontan „ja“ gesagt. Damals haben wir mit fünfzehn Studierenden diese 31 potenziellen Gegner beobachtet, allerdings sehr oberflächlich. Ist ja klar, mit fünfzehn Leuten. Das hat sich bis 2014 weiterentwickelt, als wir dann mit mehr oder weniger 50 Studierenden und vier wissenschaftlichen Mitarbeitern während der WM in Brasilien gearbeitet haben. So hat sich das von Turnier zu Turnier weiter verbessert. Aus wissenschaftlicher Sicht hat sich parallel dazu ein eigener Weiterbildungs-Masterstudiengang für Spielanalyse an der DSHS Köln entwickelt.

Wie ist Jürgen Klinsmann auf Sie gekommen?

Der Kontakt ist über den TV- und Medien-Koordinator der Nationalmannschaft, Ulrich Voigt, der ein persönlicher Freund von mir ist und mit dem ich zusammen Fußball gespielt habe, entstanden. Als ich in der dritten Liga Trainer wurde, war er unser Kapitän. Wir kennen uns seit den 70er Jahren. Er saß damals vor dem Länderspiel gegen die Niederlande in Rotterdam mit Jürgen Klinsmann zusammen. Jürgen Klinsmann und Joachim Löw haben überlegt, wie sie die Arbeit im Scoutingbereich vorantreiben könnten. Uli meinte: „Ja, ich kenn‘ einen an der Uni, der macht das auch schon die ganze Zeit und könnte uns bestimmt weiterhelfen“. Daraufhin meinten Löw und Klinsmann: „Könntest du ihn anrufen?“. Nachts um 1 Uhr haben sie mich damals aus dem Bett geholt, weil sie das dann natürlich direkt haben wissen wollen.

Die Anfänge des „Team Köln“

Wie kann man sich das genau vorstellen? Sie hatten zugesagt. Wie haben Sie angefangen, das Ganze zu strukturieren?

Ich war der einzige, der sich damals an der Deutschen Sporthochschule mit diesem Bereich beschäftigt und die ersten Analysen gemacht hatte. Ich habe versucht, die Fußballkollegen zu motivieren mitzumachen. Diese haben jedoch abgelehnt. Sie meinten, dass das viel zu aufwendig sei und man für ein Spiel ein paar Tage bräuchte. Ich habe also zunächst einmal geschaut, welche aktuellen Softwaremöglichkeiten es auf dem Markt gibt. Einige kannte ich bereits. Dann bin ich zur Firma Mastercoach gegangen, weil ich mit dieser bereits im Vorfeld zusammengearbeitet hatte. Da merkte ich auf einmal, dass die Mitarbeiter ein bisschen zurückhaltend waren. Bis ich mitbekommen habe, dass sie eigentlich gerne meinen Job gehabt hätten und auch schon mit einem Mitarbeiter ein paar Sachen für den DFB gemacht haben. Das war mir damals nicht so bewusst. Nichtsdestotrotz haben wir die Lizenz bekommen. Zudem hat Uli Voigt über die Telekom fünfzehn Laptops besorgt, sodass wir schließlich auf jedem Laptop eine Lizenz hatten. So konnten wir nach den Vorgaben des DFB und der Trainer die ersten Mannschaften analysieren. Klar hatten wir die Informationen über die 31 Teams, aber wichtig waren vor allem die Vorrundengegner sowie potenzielle Viertelfinal- und maximale Halbfinalgegner, die wir analysiert hatten. Vom Rest haben wir nur allgemeine Informationen gesammelt. Aber das ging schon im Jahre 2006 so weit, dass ich alle deutschen Botschaften der Länder, gegen die wir gespielt oder die an der WM teilgenommen haben, angeschrieben habe. Von diesen 31 Ländern haben 22 deutsche Botschafter geantwortet. Die Hälfte davon hat gesagt, dass sie uns keine Informationen geben würde. Ich wollte nichts anderes von ihnen haben als z. B. den „Kicker“ von Brasilien oder so etwas in der Art. Ich wollte keine Geheiminformationen, sondern einfach nur die Tages- oder Sportzeitungen von ihnen haben. Aber selbst diese haben mir einige Botschaften nicht gesandt. Allerdings habe ich dann dennoch über den Kurierdienst jede Woche ein Zeitungspaket bekommen. Wir hatten an der Sporthochschule Studierende aus über 80 Ländern und somit immer jemanden vor Ort, der übersetzen konnte. So haben wir weitere Informationen eingeholt, denn die Trainer haben sich von Anfang an auch für die Stimmung in den verschiedenen Ländern interessiert. Wenn es hieß, dass ein Land gegen Deutschland spielen würde, wollten sie wissen, wie in diesem Land über Deutschland gedacht wird. Darüber hinaus konnten wir über diese Medienanalyse auch sehr gut die Persönlichkeitsstrukturen der Spieler aufzeichnen. Diese Informationen zu haben ist in der heutigen Zeit nicht ganz unwichtig.

Wie hat sich das Team Köln anfangs zusammengesetzt und wie setzt es sich jetzt zusammen?

Bis 2014 lief das ganze unter meiner Leitung, inzwischen ist Dr. Stephan Nopp der Leiter der Abteilung. Er hat zunächst in Köln studiert, war währenddessen Mitarbeiter des Analyseteams und hat schließlich seine Diplomarbeit über die Spielanalysen 2006 geschrieben. 2012 hat er seine Doktorarbeit darüber verfasst, inwiefern Ballbesitz für den Spielausgang ausschlaggebend ist. Jetzt sitzt er bei Joachim Löw mit im Team. Für jemanden wie mich ist das natürlich eine sehr schöne und erfolgreiche Geschichte, wenn man das von Anfang an miterleben kann. 2014 waren um die 45 Studierende im Team Köln. Für die aktuelle EM sind derzeit 30 bis 40 Studierende im Einsatz. Wir hatten interessanterweise sehr viele ausländische Studierende dabei: Koreaner, Japaner usw. Es waren oft Studierende der Länder im Team, gegen die wir gespielt haben. Da gab es aber nie Probleme. Sie fanden es sehr wichtig, an unserem Projekt teilzunehmen, um das Gelernte eventuell später auch in ihr Land transportieren zu können.

Wie läuft die Arbeit genau ab?

2006 war es zum Beispiel so: Ein Student hatte ein A-Team und ein B-Team. Ein A-Team war ein potenzieller Gegner, gegen den wir spielen konnten, und ein B-Team war ein Gegner, auf den man wahrscheinlich nie treffen konnte. Wir haben pro Land die letzten drei, vier vergangenen Qualifikations- und Freundschaftsspiele nach Vorgabe der Trainer analysiert und ihnen die Ergebnisse vorgelegt. Aber man muss sich mal vorstellen, wie sich die technischen Möglichkeiten, die wir hatten, entwickelt haben: 2006, noch während der WM, mussten wir natürlich weiterarbeiten und die entsprechenden Gegner analysieren. Das haben wir in Köln gemacht und haben dann die gebrannten DVDs per Kurierdienst zum Flughafen Köln/Bonn gefahren, von wo aus sie nach Berlin geflogen wurden. Denn mit der Internetübertragung damals, fünf Gigabyte, da war überhaupt nicht daran zu denken, dass man die Daten abschicken konnte. Das heißt, das war damals wirklich noch technisches Mittelalter. Aber es hat geklappt.

Das allerwichtigste, was wir schon im Vorfeld unserer ersten WM-Analyse gemerkt haben: Wir mussten erstmal lernen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Denn im Fußball kann man wohl Tage und Wochen darüber diskutieren, was ein „Zweikampf“ oder was eine „Torchance“ ist, was ein „Pass in die Tiefe“ ist und um wie viel Prozent das ganze abweichen darf, damit es noch ein „Pass in die Tiefe“ ist. Da ist in mir natürlich der Wissenschaftler hochgekommen, der das alles genau definiert haben wollte. Anfangs war das auch ein kleiner Kampf mit den Trainern, denn so genau wollte man das auch nicht haben. Man wollte natürlich in der Fußballpraxis bleiben. Für uns aber war es dennoch wichtig, dass sowohl alle Trainer als auch Studierenden eine gemeinsame Fachsprache beherrschten. Nach der WM 2006 hat sich der Trainerstab unter der Leitung von Joachim Löw zusammengesetzt und man hat eine Spielphilosophie entwickelt. Man hat Leitlinien für jede einzelne Position und für die Mannschaftsblöcke entwickelt. Ich habe versucht, diese wissenschaftlich zu überarbeiten. Im Laufe der Zeit hat sich das immer weiter entwickelt. Damit das klarer wird, erläutere ich das an einem Beispiel: Am „Abdrängen des Außenstürmers“. Wie soll der Verteidiger stehen, wohin soll der Verteidiger den Außenstürmer abdrängen? Die Philosophie der Nationalmannschaft besagte damals: „Möglichst nach innen“. Und in jedem Lehrbuch steht natürlich: „Nach außen“. Aber man bildet dann „Abwehrdreiecke“ und so weiter. Man muss aber jede einzelne Situation ganz konkret beurteilen. Aber nach diesen Formen der Spielphilosophie, wie z. B. dem Abdrängen des Stürmers durch einen Verteidiger, wurden die Szenen abgelegt. Wenn wir zehn Szenen hatten und fünfmal nach außen und fünfmal nach innen abgedrängt wurde, oder in der Regel eben neunmal nach außen und einmal nach innen, dann heißt es eben: Der Verteidiger drängt den Stürmer in der Regel nach außen ab oder nach innen ab. Der Gegner wurde so nach der Spielphilosophie der deutschen Nationalmannschaft analysiert.

Studentische Spielanalysen für das Nationalteam: Alles EHRENAMTlich

Im Jahre 2008 hatten wir dann schon ein relativ großes Team an Studierenden. Jede/-r von ihnen hat in dem halben Jahr vor einer EM oder WM mindestens zehn Stunden pro Woche gearbeitet. Sie wurden in Seminaren auf die Analysen vorbereitet. Wenn man das hochrechnet und wenn dreißig Leute arbeiten, kamen da schon einige Planstellen zusammen. Viele von ihnen haben gefragt, warum der DFB ihre Arbeit nicht bezahlen würde. Am Anfang war ich auch ein bisschen der Meinung, dass sie Geld für die Analysen bekommen sollten. Aber hinterher fand ich es dann korrekt, dass die Arbeit unbezahlt war, weil die Studierenden so hoch qualifiziert wurden. Die DFB-Trainer sind nach Köln gekommen, haben sie ausgebildet und ihnen nochmal die Spielphilosophie der Nationalmannschaft vermittelt – in Theorie und Praxis. Zudem gab es manchmal Trikots oder ein gemeinsames Essen mit Urs Siegenthaler und weiteren DFB-Mitarbeitern, wofür der DFB die Kosten übernommen hat. Am Ende ihrer Tätigkeit als Spielanalyst(-inn-)en bekamen sie von Oliver Bierhoff, Joachim Löw und mir ein offizielles Zeugnis ausgestellt. Ich denke, dass diejenigen, die wirklich Interesse haben, an so etwas teilzunehmen, so stark davon profitieren, dass das auch keine 500 Euro im Monat aufgewogen hätten. Aber wir konnten uns dann auf jeden Fall sicher sein, dass wir die richtigen hatten, die zu 100% dahinterstanden. Entwickelt hat sich das sehr stark, immer wissenschaftlicher. Was vom Trend her sehr interessant ist: Am Anfang haben wir rein qualitativ gescoutet, es wurde also kaum statistisches Material verwendet, sprich es gab kaum diese berühmten Strichlisten. Vielmehr wurde versucht herauszufinden, wie sich der Gegner bei Rückstand verhält, wie sich die einzelnen Mannschaftsblöcke verhalten, wie das Umschaltspiel nach Ballgewinn und nach Ballverlust ist, wie schnell der Gegner dann wieder in der Grundordnung ist. All diese Informationen haben die Trainer natürlich viel mehr interessiert als beispielsweise die Anzahl der Ecken.

Wir hatten später natürlich sehr viele Analysedaten. Deshalb sind wir dazu übergegangen, das Statistische in den Mittelpunkt zu stellen, weil wir mit dem statistischen Material dann eben wirklich auch wissenschaftlich arbeiten konnten – also mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen, mit Varianzanalysen, sodass wir da einige gute Ergebnisse erzielen konnten. Aber interessanterweise ging der Trend von der Überbetonung der „reinen Zahlen“ wieder zu 50% qualitative und 50% quantitative Arbeit über. Jetzt ist es so, dass das Qualitative noch mehr im Mittelpunkt steht, wobei die Zahlen und Daten die Basis darstellen.

 

Beherrschen der Fußballsprache als Grundvoraussetzung

Welches Fußballwissen müssen die Studierenden mitbringen, um Teil des Team Köln werden zu können?

Wir haben eine Fibel von rund 100 Seiten mit der Fußballsprache. Diese müssen die Bewerber/-innen draufhaben. In dem Buch steht beispielsweise, was ein „Pass“ ist und ab wann das ganze als „Dribbling“ zählt, ab drei Ballkontakten. Alles muss ganz klar definiert sein.

Wie werden dann zwei aufeinanderfolgende Ballkontakte eines Spielers bezeichnet?

Das ist die „Ballverarbeitung“. Was wohl genauso interessant ist: Bei uns gibt es den Begriff „Zweikampf“ nicht. Ein „Zweikampf“ besteht eigentlich nur, wenn zwei Spieler in gleicher Entfernung auseinander stehen und der Ball genau in der Mitte herunterfällt. Diese Situation gibt es ja so gut wie nie. Deshalb wird der „Zweikampf“ bei uns in vier verschiedene Bereiche eingeteilt: Das ist das Verhindern eines Zusammenspiels, das Tackling, die Abwehr gegen Dribbler und das Kopfballspiel. Genauso verhält es sich mit dem Begriff „Torchance“: Wenn ein Spieler am Ball ist, hat er eine „Torchance“. Wenn ich aber einen Zentimeter am Ball vorbeirutsche und dabei zwei Meter vom Tor entfernt bin, zählt das nicht als „Torchance, weil ich den Ball nicht berührt habe.

Wenn man hingegen an der eigenen Torlinie steht und den Ball schlägt, also einen klassischen „Clearingstoß“, unkontrollierten Stoß, ausführt, und „Kyrill“ kommt und den Ball ins Tor bläst, hat man theoretisch eine „Torchance“, weil man am Ball war. Auch, wenn diese vielleicht in dem Fall mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:10 Millionen eintritt (lacht). Aber wer legt fest, wo das ganze anfängt und wo es aufhört? Natürlich hat man ein Gespür dafür, aber im Allgemeinen ist es subjektiv. Deswegen haben wir eben eine gewisse Zeit gebraucht, um die Termini entsprechend zu vereinheitlichen. Das müssen die Studierenden erstmal lernen. Dann werden sie eingewiesen. Jede/-r Mitarbeiter/-in bekommt einen eigenen Laptop mit der entsprechenden Software. Wir haben eine eigene Software mit eigenen Tools entwickelt.

Was ist neben dem Beherrschen der Fachsprache wichtig? Wie sieht die Aufnahmeprüfung aus?

Motivation ist die Grundvoraussetzung, um im Analyseteam aufgenommen zu werden. Wenn wir merken, dass jemand nicht zuverlässig sind, ist er oder sie raus. Man kann ja auch nicht einfach mal so ein Länderspiel verlegen. Wir hatten schon den Fall, dass wir im Vorfeld 60 Leute hatten, von denen 30 übrig geblieben sind. Das waren dann aber diejenigen, auf die wir uns hundertprozentig verlassen konnten. Zudem muss jeder, der bei uns mitmacht, schon mal im höheren Amateurniveau gespielt haben und auch einige Grundkenntnisse in diesem Bereich haben. Dahingehend haben wir interessanterweise mehrfach beobachtet, dass jemand, der selbst in der Landes- oder Bezirksliga gespielt hat, besser war als jemand, der selbst in der Regionalliga aktiv war. Denn diese haben das ganze oftmals nicht so ernst genommen.

Bei der Aufnahmeprüfung müssen die Bewerber/-innen unter bestimmten Gesichtspunkten ein Spiel analysieren. Diese Tests werden auch während der Mitarbeit regelmäßig wiederholt und die Studierenden werden aus- und fortgebildet. Es ist keine Hexerei. Manchmal sind Studierenden mit Spielszenen gekommen, die ihnen selbst gefallen haben. Das war auch immer ganz schön zu beobachten, weil sie dadurch teilweise sehr kreativ geworden sind.

Was gefällt Ihnen am Meisten daran, Spiele zu analysieren?

Ich glaube, man sieht ein Spiel ganz anders. Man schaut grundsätzlich auf taktische Analysen. Mir fällt es immer schwer, ein Spiel völlig unbedarft zu gucken, ob ich jetzt ein Spiel in der Kreisklasse betrachte, oder ob ich mir das Europa League-Finale des FC Liverpool ansehe. Ich schaue es immer unter taktischen Gesichtspunkten und immer wieder im Vergleich zur deutschen Fußballnationalmannschaft: Was ist gut daran, was weniger? Natürlich ist bei den meisten vieles schlechter (lacht). Es geht dabei nicht um das technische Vermögen des Einzelnen, sondern um das gesamtmannschaftliche Verhalten. Oder eben auch um Körpersprache, denn die Psychologie spielt ja doch eine sehr starke Rolle. Das hat mich zum Beispiel maßlos gestört beim Spiel des FC Bayern gegen Atletico Madrid: Wenn man eine Viertelstunde vor Schluss noch ein Tor schießen muss und zum Einwurf geht, anstatt da wirklich zum Einwurf zu sprinten und das Spiel schnell zu machen und da jede Sekunde herauszuholen. So etwas ist für mich Körpersprache, Willenssache und eine Mentalitätsfrage. Ich glaube, dass das bisher noch viel zu wenig erforscht ist und dass darauf noch viel zu wenig Wert gelegt wird. Theoretisch hatten wir sogar zum Ziel, biomechanische und motorische Elemente zu analysieren und zu schulen: Wenn z.B. ein Verteidiger gegen Ronaldo spielen musste und wir analysiert hätten, dass er mit Vorliebe den „Übersteiger“ macht, dann sollte ein Verteidiger im Training die Finte genauso üben. Denn wenn ich das über das spinalmotorische System selbst machen kann, kann ich natürlich im peripheren Sehen und im Ansatz viel früher erkennen, wenn so eine Bewegung eingeleitet wird, was der Gegner vorhat. Und das sind natürlich hochwissenschaftliche Sachen. Soweit sind wir leider noch nicht. Oder vielleicht zum Glück. Sonst wäre alles sehr kongruent und dann käme vielleicht gar kein Spiel mehr zustande. Auf der anderen Seite: Alle Statistiken und Spielanalysen helfen sicherlich nicht, aus den berühmten Ackergäulen Rennpferde zu machen. Aber ich glaube, je gleicher die Mannschaften sind und je höher deren Niveau ist, umso mehr sollte man die Möglichkeiten nutzen, die Spielanalysen bieten. Das können eben die entscheidenden Prozente sein. Wenn ich mich an ein Spiel gegen Spanien erinnere: Wir hatten 800 Seiten und zig DVDs über diesen einen Gegner. Er wurde regelgerecht „auseinandergenommen“, sodass wir alles über ihn wussten. Hansi Flick und das Team um Chefscout Urs Siegenthaler mussten das alles lesen und daraus ein Exzerpt für Joachim Löw zu machen, das war schon eine Aufgabe. Der Trainer musste natürlich wissen, was noch alles in den 800 Seiten stand. Dafür musste er auch ein Verständnis entwickelt haben.

Arbeitsschwerpunkt und Mannschaftsbesprechungen

Was interessiert die Trainer und Urs Siegenthaler am Meisten? Worauf wird der Schwerpunkt bei den Spielanalysen gelegt? Was genau steht inhaltlich auf den zwei oder drei der 800 Seiten?

Es geht um rein qualitative Fragen: Wie ist der Spielaufbau einer Mannschaft, d. h. wie werden Angriffe eingeleitet? Gibt es dahingehend Muster? Läuft das ganze über bestimmte Personen? Wie verhält sich ein Team, wenn es den Ball verloren hat? Wie reagiert es, wenn es zurückliegt? Wie ist das Verhalten der gesamten Abwehr, wie ist das der Stürmer – gehen sie mit zurück, helfen sie sich gegenseitig? All diese ganz normalen Aspekte eigentlich. Wir haben alles anhand von Videomaterial belegt.

Werden die Analysen dann auch auf die einzelnen Positionen aufgeteilt? Im Film „Deutschland. Ein Sommermärchen“ gibt es z. B. eine Sequenz, in welcher Joachim Löw ausschließlich mit den Verteidigern eine Sitzung hat und darin Videos bespricht…

Das ist das Schöne, dass er das so macht. Vor einem Länderspiel kommt in der Regel Urs Siegenthaler mit seinem Team und erklärt genau, wie die gegnerische Mannschaft spielt. Dann nimmt er sich beispielsweise noch einmal die Abwehrspieler heraus und bespricht mit ihnen, wie das Aufbauverhalten, das Sturmverhalten des Gegners ist. Anschließend setzt er sich mit den Angreifern zusammen und bespricht das gegnerische Abwehrverhalten im Detail. Das wird wirklich in diesen Blöcken gemacht. Im Sommer 2006 hat danach Joachim Löw eine Mannschaftsbesprechung einberufen und erstmal die eigene Taktik vorgestellt. Anschließend hat er den Sturm herausgegriffen und den Jungs gesagt, wie sie spielen sollen. Das gleiche hat er mit der Abwehr etc. gemacht. Und dann kam erst Jürgen Klinsmann als Cheftrainer.

Diese Aufgabenteilung ist schon sehr markant. Ich denke, dass sich Trainer, die im Rahmen der Spielvorbereitung alles selbst machen, selbst verschleißen und abnutzen. Wenn Jürgen Klinsmann vor den Spielen bei der WM 2006 nochmal die wichtigsten taktischen Elemente genannt hat und für Motivation gesorgt hat, dann war das meines Erachtens insgesamt eine gute Aufteilung der Aufgaben im Trainerstab.

Zur Sicht deutscher Profitrainer und Klinsis Gummibändern

Welche Erfahrungen haben Sie hinsichtlich der Spielanalysen mit den Trainern der deutschen Profiligen gemacht?

Was ich leider immer wieder festgestellt habe: Oft wird heutzutage von den „Laptop-Trainern“ gesprochen. Klar, die Entwicklung geht in diese Richtung, aber in der Bundesliga wird in dem Bereich noch viel zu wenig gemacht. Da kommt oft noch der Vorwurf an uns: „Ja, ihr mit eurer Nationalmannschaft, wenn ihr im halben Jahr ein paar Spiele habt, da habt ihr Zeit euch darauf vorzubereiten. Wir spielen alle drei Tage, das geht gar nicht“. Ich sage dann nur: „Liebe Kollegen, was ist bei einer EM oder WM? Da spielen die Jungs auch alle drei Tage und die Spiele werden trotzdem genauso vorbereitet“.

Haben Sie in der Hinsicht seit der WM 2014 eine veränderte Einstellung bei ihnen wahrgenommen?

Nein. Der Trend bei den Trainern ist der, den man auch von Seiten der Nationalmannschaft sehr begrüßt: diese Tuchels, Nagelsmänner und andere junge Trainer. Das sieht man natürlich schon sehr gerne. Denn es ist nicht damit getan, dass jemand hundertmal in der Nationalmannschaft gespielt hat und dann Trainer wird. Sicherlich kann dieser auch ein guter Trainer sein, aber ich finde einfach, man muss heute – und das ist meiner Meinung nach immer noch der ganz große Verdienst von Jürgen Klinsmann – einen Weit- und Durchblick haben. Wenn er damals nicht gekommen wäre, wäre der DFB in meinen Augen vielleicht auch noch nicht so weit wie heute!

Wenn man allein die Tatsache betrachtet, dass er Fitnesstrainer dazugeholt hat.

Genau. Ich erinnere mich daran, als Jürgen Klinsmann und Joachim Löw bei uns in Köln waren und aus Motivationsgründen mit den Studierenden gesprochen haben. Ich habe Jürgen Klinsmann damals gesagt, dass ich es absolut super finde, was er macht. Ich meine, er hat nichts anderes gemacht, als im Leistungssport üblich war. Aber im Fußball eben nicht. Ich habe ihm verdeutlicht, dass wir hier an der Sporthochschule Köln, der renommiertesten Sporthochschule, sind, aber dass ich nicht verstehen würde, weshalb sich die Nationalmannschaft einen Fitnesstrainer aus den USA nehmen würde. Da erklärte er mir: „Ja, Herr Buschmann, das ist relativ einfach. Ich bin von heute auf morgen ins kalte Wasser geschmissen worden und ich wusste genau, was ich wollte und wen ich wollte. Mit dem FC Bayern haben wir uns zweimal bei Mark Verstegen in den USA fit machen lassen“. Dadurch wusste er, wie Mark Verstegen arbeitet und dass er sich auf ihn verlassen konnte. Da musste ich sagen: „Ja, ok“. Aber diese Antwort wollte ich erstmal haben.

Jürgen Klinsmann wurde ziemlich stark von der Presse kritisiert, als er mit seinen Gummibändern ankam. Aber wenn man Dritter wird, kann das nicht so falsch gewesen sein…

Aber überhaupt das Schaffen von diesen Grundstrukturen, das Hinzuholen von Spezialisten, vielen Trainern und auch Dinge wie die Spielanalyse, das ist nur durch Jürgen Klinsmann und Co. geschehen. Früher hat man in der Vorbereitung auf ein Turnier auf die routinierten DFB-Trainer gebaut. Diese hatten sicherlich sehr viel Erfahrung. Aber man kann nicht nur mal fünf DFB-Trainer zu fünf Spielen schicken, die dann eine mehr oder weniger oberflächliche qualitative Analyse von einem Spiel abliefern. Ich denke diese Zeiten sind vorbei. Und wenn man in der heutigen Zeit diese Möglichkeiten hat wie z. B. mit einer Universität zusammenzuarbeiten – wer das nicht nutzt, der handelt fahrlässig. Und wenn es nur das letzte Prozent ist, das damit herausgeholt wird. Aber das letzte Prozent kann entscheidend sein. Das berühmteste Beispiel ist Jens Lehmanns Elfmeterzettel. Wir waren die ersten, die versucht hatten, die Schützen statistisch auszuwerten. Wenn man eben weiß, dass man in einer Stresssituation – und dazu gehört eben ein WM-Viertelfinale – dass man da zu 99% in die vom Schützen bevorzugte Ecke schießt, dann ist das eben so. Oder 2006, das fand ich wunderbar: Vor dem WM-Spiel gegen Schweden rief mich Urs Siegenthaler an und sagte: „Jürgen, wir haben keine Informationen über Larsson, wohin der die Elfmeter schießt“. Ich meinte darauf: „Ja, dann haben wir das nicht analysiert“. Aber wir hatten eben Kontakte nach Schweden und Barcelona und haben dort angerufen. Dadurch haben wir herausbekommen, dass er als Schütze so perfekt war, dass er grundsätzlich reagierte und nicht agierte. Er wartete immer, bis der Torwart etwas machte, dann schoss er z.B. in die andere Ecke. Also haben wir den Tipp weitergegeben, dass sich Jens Lehmann nicht bewegen soll. Und wie es der Zufall wollte, kam es zum Elfmeter, Lehmann ist wie versteinert stehen geblieben und was hat Larsson gemacht? Er wusste nicht, was er tun sollte und hat den Ball über das Tor geschossen. Wenn man so etwas bei einer WM erreicht, dann sitzt man schon zuhause im Fernsehsessel und macht die „Becker-Faust“ (lacht).

Kritik an den Profitrainern: Die Datenbank blieb ungenutzt

Man muss zwischen den Gegnerbeobachtungen und der Suche nach passenden Spielern für das eigene Team differenzieren. Welchen Umfang hatte Ihre Datenbank?

Wir haben das – aus wissenschaftlichen Gründen – parallel gemacht. Wir haben sogar die Copa Libertadores analysiert und alle U-Turniere sowie die Afrika-, Asien- und Südamerikameisterschaft. In der Datenbank war alles drin, wir hatten um die 15.000 Spieler ausgewertet, und über 10.000 Spiele. Wenn jetzt ein Trainer gesagt hätte, dass kurzfristig doch Meyer anstatt Müller in der gegnerischen Startelf steht und er keine Informationen über diesen hätte, hätte er nur Meyer in die Datenbank eingeben müssen und sich dann alles über Meyer in der Datenbank anschauen können – und das inklusive Bilder, nicht nur Daten und Fakten.

Lag der Fokus Ihrer Arbeit wirklich auf den Gegnern oder hat Joachim Löw auch nach Zusammenschnitten der Länderspiele von Per Mertesacker etc. gefragt?

Wir haben eher die Gegner unter die Lupe genommen. Die Analysen der eigenen Mannschaft bilden den Arbeitsschwerpunkt von DFB-Chefscout Urs Siegenthaler. Wenn er z. B. noch ein paar Videoszenen von Per Mertesackers Spielen für Arsenal gebraucht hat, hatte er Zugriff auf unsere Datenbank, wenn ihm die entsprechenden Daten tatsächlich nicht alle durch seine Beobachtungen bzw. vom DFB vorlagen. Wir hatten in der Hinsicht wirklich höchstens mal den Auftrag, im Vorfeld einen Perspektivkader zu beobachten. Aber wenn es um das Stellungsspiel von Mats Hummels etc. ging, war das natürlich die Aufgabe der Trainer (lacht).

Wie kann man sich die Arbeit von Joachim Löw diesbezüglich vorstellen? War es so, dass er Ihnen und Ihrem Team ein Profil vorgegeben hat, wenn er einen neuen Spieler ins A-Team aufnehmen wollte? Oder hat er zusammen mit Urs Siegenthaler die Datenbank durchforstet und dort nach Spielern gesucht, die in die Nationalelf passen?

Wir haben vor einer EM oder WM hier und da zu einem vorgegebenen Perspektivkader, der um die vierzig Spieler umfasste, eine Analyse abgegeben. Aber unsere Datenbank wurde vom DFB sonst kaum genutzt. Wir haben auch mit drei, vier Bundesligisten zusammengearbeitet, die relativ wenig Geld für die Datenbank ausgeben mussten. Deren Trainer hätten hineingucken können und beispielsweise nach einem rechten Verteidiger, der ein Linksfuß ist, 1, 70 m groß ist und pro Spiel meinetwegen zehn Flanken schlägt, suchen können. Dann hätte der PC vielleicht zwanzig Spieler gefunden, die die Kriterien erfüllen. Davon wären vielleicht zehn zu teuer gewesen, dann hätte es vielleicht noch fünf Spieler gegeben, die der Trainer aussortiert hätte und dann wären z. B. drei Spieler aus den skandinavischen Ligen und zwei aus der Bundesliga in der engeren Auswahl gewesen. Die hätte sich der Trainer näher anschauen können und da wären anhand der haargenauen Analyse der Datenbank zwei oder drei Spieler übrig geblieben. An der Stelle hätte der Trainer dann seine Scouts hinausschicken sollen – und meines Erachtens auch wirklich erst zu diesem Zeitpunkt, um die Spieler genauer beobachten zu lassen. Bis dahin hätte sich der Verein schon mindestens 100.000 Euro sparen können.

Aber kein Mensch hat das gemacht. Keiner. Obwohl sie die Datenbank zur Verfügung hatten. Die Clubs haben sich immer noch für die Spieler entschieden, die ihnen per DVD und mit der Ausdrucksweise „Ja, ich hab einen guten für dich, der macht in der nächsten Saison zehn Buden“ empfohlen wurden. Dafür haben sie dann fünf oder zehn Millionen Euro bezahlt. Das war für mich einfach unverständlich.

Woran, denken Sie, lag das hauptsächlich? Ist es so, dass viele Trainer nicht von ihrer Arbeitsweise, die sie schon jahrelang betreiben, abweichen wollen und somit schlichtweg skeptisch gegenüber Neuem sind? Oder haben sie kein Vertrauen in die Datenbank? Das Ganze ist ja in gewisser Weise wirklich unverständlich.

Ja, das passte nicht zusammen. Das wollte man nicht. Man hatte zum Beispiel Vertrauen in jemanden, der schon dreimal einen guten Spieler verkauft hat und dann hat man eben auch das vierte Mal auf denjenigen gehört.

Quergefragt

Gibt es eine Anekdote aus Ihrer Analysezeit?

Ja, aber eine eher negative. Die TV-Sender müssen ihre Sendungen vor den Fußballspielen immer füllen. Vor dem Spiel gegen Griechenland bei der EM 2012 war wirklich jeden Tag die Tagesschau, das Heute-Journal etc. bei mir. Da wollte ich unsere Arbeit bzw. vor allem die Arbeit der Studierenden in den Mittelpunkt stellen. Also habe ich erzählt, dass die Studierenden einige Nachtschichten einlegen mussten, weil Griechenland nicht wirklich auf unserem Zettel stand. Das heißt, dass wir nicht damit gerechnet haben, dass wir gegen sie spielen würden. Ich habe gesagt, dass wir uns eben mehr auf die anderen Gegner konzentriert hätten und deshalb in den vergangenen Tagen mehr arbeiten mussten. Das kam überall im Fernsehen. Es ist natürlich klar, dass der Trainerstab sehr aufgeregt war, als er das gehört und gelesen hat. Denn damit haben wir Griechenland stark gemacht, schließlich kam das so herüber wie: „Euch hatten wir gar nicht auf dem Zettel, euch haben wir gar nicht beobachtet“. Das war vom Psychologischen her nicht gut. Ich als Mitarbeiter erzählte so etwas und da war man natürlich stinkesauer. Ich wollte ja eigentlich nur hervorheben, wie gut und wie viel die Studierenden gearbeitet hatten. Da musste man wirklich jedes Wort auf die Goldwaage legen (lacht). Vor allem, wenn das auf dieser Ebene geschieht. Das hatte wirklich jeder mitbekommen, weil ja jeder die Tagesthemen guckt. Eine Stunde vor dem Spiel wurde das auch nochmal erwähnt. Das war wirklich fürchterlich.

Jetzt ein kleiner Themenwechsel. DIE MANNSCHAFT steht immer im Vordergrund, stets wird von der Nationalmannschaft gesprochen. Aber haben Sie auch die Spiele der Jugendnationalmannschaften analysiert?

Als die Philosophie der Nationalmannschaft feststand, wurde diese auch den Trainern der U-Teams zugänglich gemacht. Jedoch war es damals nicht immer möglich, dass diese auch von ihnen umgesetzt wurde. Heute ist das meiner Meinung nach sehr viel besser. Die Kooperation zwischen den Jugendnationalteams und dem A-Team hat sich äußerst positiv entwickelt und ist weiter fortgeschritten.

Wie lief die Zusammenarbeit mit U20-Cheftrainer Frank Wormuth, der zugleich für die Fußball-Lehrer-Lehrgänge verantwortlich ist? Hierbei fließen Spielanalysen sicherlich zu einem nicht geringen Anteil ein…

Die Zusammenarbeit mit Frank Wormuth war immer gut. Ich konnte regelmäßig themenspezifische Vorträge vor den angehenden Fußball-Lehrern halten. Trotzdem wurde das ganze methodisch nicht so schnell in der Form aufgebaut, wie ich mir das durchaus hätte vorstellen können. Anfangs haben Urs Siegenthaler und ich ab und an über Spielanalysen referiert. Es hat einige Zeit gedauert, bis man die Thematik wirklich didaktisch/methodisch gut in den Lehrgang integriert hatte.

Waren Sie selbst in Ihrer Zeit als Leiter des Instituts für Scouting-Studien an der DSHS während der Spiele stets in Köln oder haben Sie diese mitunter live im Stadion angeschaut?

Ich war 2008 bei der EM in Österreich und 2006 beim Viertelfinale in Berlin gegen Argentinien. Bei jedem Turnier habe ich mir ein oder zwei Spiele angeguckt, allerdings nicht operativ, sondern nur als Gast. Ich habe meine Mitarbeiter immer im Hintergrund arbeiten lassen. Das sind dann stets min. zwei Studierende, die dafür zuständig sind. Nach den Spielen habe ich mir die Berichte vorlegen lassen und bin sprachlich und wissenschaftlich nochmal drüber gegangen, bevor sie abgeschickt wurden. Operativ habe ich in der Zeit kaum mehr gearbeitet, das haben wirklich die Studierenden übernommen.

Wie sehen die Berufschancen für Spielanalystinnen und Spielanalysten aus?

Wenn ich jetzt auf die vergangenen zehn Jahre zurückblicke, hatten wir mindestens zwanzig Studierende im Team, die inzwischen hauptberuflich im Spielanalysebereich tätig sind. Meiner Meinung nach müsste jeder Bundesligist eine mindestens sechsköpfige Spielanalyseabteilung haben, wobei die dann sowohl die Gegneranalyse, die Analyse der eigenen Mannschaft, als auch das klassische Scouting machen sollten. Wir haben die erste und zweite deutsche Liga von 2007 bis 2012 komplett analysiert und alle Ergebnisse in einer Datenbank festgehalten. Das war eine rein statistische Auswertung, in der wirklich alles drin war, und die wirklich kein Mensch außer uns hatte.

Vielen Dank für das spannende und sehr informative Interview!

Sehr gerne.