Teil III. Unglaublich: „629 Spiele hintereinander haben wir entweder gewonnen, unentschieden gespielt oder mit nur einem Tor Unterschied verloren“

Lassen Sie uns zu einem anderen Thema kommen. Sie haben so viele Erfahrungen gesammelt. Die Weltmeisterschaft 1991 und so weiter… Was war für Sie das schönste Erlebnis weltweit? Es ist ziemlich schwer, nur eines herauszugreifen, aber vielleicht können Sie es versuchen… Auf welches Erreichte sind sie am meisten stolz?

Ehrlich gesagt ist die Weltmeisterschaft 1991 einer der Höhepunkte, denn das gefällt mir natürlich am besten: Wir haben die Welt in ihrem eigenen Spiel geschlagen. Das ist wunderbar. Und wir haben es früh geschafft: Wir haben es bei der ersten Weltmeisterschaft geschafft. Für mich war das also ein wunderbar befriedigender Moment. Aber es gibt noch andere Dinge, über die ich mich freue. Wir haben vorhin über den Competitive Cauldron gesprochen. Ich bin sehr stolz darauf, und ich denke, das ist eine wahre Aussage. Ich glaube, in 629 aufeinander folgenden Spielen mit meiner College-Mannschaft haben wir entweder gewonnen, unentschieden gespielt oder mit nur einem Tor Unterschied verloren. Also 629 Spiele hintereinander…

Das ist unglaublich…

Anson Dorrance beobachtet seine Mannschaft. Der Trainer hat viele Ideen, wie man das Fußballspiel an sich positiv verändern kann.
Foto: Athletic Department, University of North Carolina

Das heißt, wir haben in jedem Spiel bis zur letzten Sekunde gekämpft. Was ich an dieser Statistik liebe, ist: Sie zeigt, dass man Wettkampfhärte trainieren kann. Immer wenn ich mit meinen Spielerinnen über neun verschiedene Qualitäten spreche, spreche ich über Selbstdisziplin, über Kampfgeist, über Selbstvertrauen, über die Liebe zum Ball, über die Liebe zum Spiel, zum Zuschauen, über Einsatzbereitschaft, über Trainierbarkeit und über Verbundenheit. Und Verbundenheit ist – wie beantwortest du das – ob du deine Mitspieler liebst und ob sie dich lieben. Und das Wichtigste ist bei all diesen Diskussionen in diesen neun verschiedenen Kategorien: Der Ring, der sie alle beherrscht, ist das Feuer des Wettbewerbs. Und das, worauf ich am meisten stolz bin, ist die Tatsache, dass wir 629 Spiele in Folge entweder gewonnen, unentschieden gespielt oder nur mit einem Tor Unterschied verloren haben. Das zeigt, dass wir mithalten können, denn natürlich gibt es Tage, an denen wir nicht gut gespielt haben, aber trotzdem haben wir durchgehalten. Es gab Tage, da spielten wir gegen Teams, die besser sind. Aber sie konnten nicht gegen uns in Führung gehen, und das ist für mich eine außergewöhnliche Statistik. Ich würde also sagen, die Weltmeisterschaft und diese Serie.

Im Jahr 2012 hatte meine Frau ein Autoimmunproblem und lag sozusagen im Sterben. Das Team hat sich zusammengetan, um für sie zu spielen. In den Vereinigten Staaten bekommt man natürlich einen Ring, wenn man eine nationale Meisterschaft auf Collegeniveau, aber auch auf Profiebene, gewinnt. Ich habe also 22 nationale Meisterschaften gewonnen, aber ich trage nur einen Ring: Der Ring, den ich trage, ist der Ring, den das Team für erspielt hat. (strahlt über das ganze Gesicht und zeigt mir den Ring) Auf der Innenseite des Rings steht: „Dieser Ring ist für dich, M’Liss“, denn auf dem Band, das jede Spielerin um das Handgelenk trug, stand M’Liss‘ Name drauf. Die Mannschaft kam vor dem Halbfinalspiel zu mir und sagte mir, dass sie ihr die diesjährige Meisterschaft widmen würden. Dann haben wir das Halbfinale und schließlich das Finale gewonnen. Das bedeutete für mich einfach die Welt. Ich trage also einen Meisterschaftsring. Es war der Ring, den das Team für meine kranke Frau erspielt hat. Sie hat sich erholt. Sie hatte eine Nierentransplantation und es geht ihr jetzt viel besser. Aber im Grunde würde ich sagen, die Weltmeisterschaft, die nationale Meisterschaft 2012 und dann diese Reihe von Spielen, die wir entweder gewonnen, unentschieden gespielt oder nur mit einem Tor Unterschied verloren haben.

Wow, tolle Geschichte und tolle Geste von Ihrem Team.

Internationale Eindrücke

Sie haben mir erzählt, dass Sie von Land zu Land gezogen sind. Wenn Sie über Fußball nachdenken: Gab es einen Eindruck von den Unterschieden zwischen den Kulturen, der Sie sehr stark gesprägt hat?

Ja, ich denke, was mich beeindruckt hat, ist: Ich liebe die Menschen in jedem Land, in dem wir gelebt haben. Es ist irgendwie interessant, weil ich als Katholik geboren und aufgewachsen bin. Also war ich überall, wo ich gelebt habe, auf katholischen Schulen. Die Schule, die ich in Fribourg in der Schweiz besuchte, war eine Marienschule. Die Brüder und Schwestern von Maria. Meine Erzieher, meine Professoren waren also wunderbar. Sie waren im Grunde Brüder und Priester der Gesellschaft Marias. Ich habe in meinem Leben nur zwei akademische Preise gewonnen. Der eine Preis war der Englischpreis an der St. Joseph’s Schule in Addis Abeba in Äthiopien. Das lag daran, dass ich das einzige Kind in der Klasse war, das zu Hause Englisch sprach. Es war eine katholische Schule, aber eine afrikanische Schule, und es wurde auf Englisch unterrichtet. Ich habe also den Englischpreis gewonnen. Und warum? Weil ich natürlich Englisch gesprochen habe. (wir lachen) Das Beste an diesem Preis war, dass der Mann, der mir den Preis überreichte, Haile Selassie war, der „Lion of Judah“. Für mich war es also eine außergewöhnliche Auszeichnung, die ich gewonnen hatte.

Immer, wenn mein Vater die Geschichte erzählte, wurde sie als Scherz erzählt. (lacht) Ich habe den Preis nicht gewonnen, weil ich ein besonders guter Schüler war. Sondern nur, weil ich zu Hause Englisch gesprochen habe. Also, ja, ich sprach ziemlich fließend Englisch. Der einzige andere akademische Preis, den ich gewonnen habe, war der Religionspreis der Villa St. Jean [Privatschule; Anm. von LS] in Fribourg, Schweiz. Und das war wirklich interessant: Als ich an dieser Schule war, wurde ich für das Priesteramt rekrutiert. Und was dazu gehörte: Ich führte heftige Debatten mit meinen Religionslehrern und all diesen Religionsklassen. Dabei ging es immer darum, wie man in der katholischen Kirche gerettet werden kann. Denke daran, das war in den späten 60er Jahren. Man musste irgendwie zum Katholizismus konvertieren oder – du weißt schon – seine Liebe zu Jesus Christus bekennen. Für mich war das absolut schwer zu begreifen. Denn wie sollte ein Mensch in Äquatorialafrika jemals einem Missionar begegnen, der ihn bekehren würde? Was sie mir also sagen wollten, war: Jeder, der nicht mit unserer Kirche in Berührung kommt, ist dann verdammt. Ich hatte also diese wütenden Debatten. Und es war nicht nur Äquatorialafrika. Ich meine, der Äquator trifft fast die Insel Singapur. Und die Bevölkerung von Singapur besteht im Wesentlichen aus Chinesen, Malaien und Indern.

Ich habe dort ein paar Monate gelebt und kenne Singapur sehr gut. 

Du weißt also, wovon ich spreche. Sie alle verurteilten die Person, und ich konnte es einfach nicht glauben. Und ganz plötzlich: Dieser Missionar aus der Gegend von Chapel Hill besuchte mich und meine Frau. Ich hörte mir ihre Lektionen an. Plötzlich fingen sie an, mit mir über die Taufe für den Tod zu sprechen. Und was mir am mormonischen Glauben gefiel: Sie verurteilen niemanden. Denn sie nehmen die Tatsache an. Es kann sein, dass man mit Jesus Christus oder irgendetwas anderem nicht in Berührung gekommen ist. Deshalb gibt es in unserer Kirche die Zeremonie, in der wir den Tod taufen. Man hat die Möglichkeit, sich für Christus zu entscheiden. Damit war dieses Problem für mich gelöst, über das ich früher heftige Debatten geführt hatte.

Ich habe den Religionspreis in La Villa de St. Jean gewonnen. Wie auch den Englischpreis an der St. Joseph’s School in Addis Abeba in Äthiopien. Den Religionspreis habe ich als bester Verfechter gewonnen. Was ich an meinen Religionslehrern wirklich schätzte, war folgendes: Ich weiß, dass ich in ihrem Unterricht eine absolute Nervensäge war. Sie wussten, dass ich diese Debatten und Diskussionen mit ihnen voller Leidenschaft führte. Dementsprechend war ich im Religionsunterricht stets engagiert und diskutierte die meiste Zeit mit ihnen. Und ich war gewiss nicht schüchtern und widersprach bei allem, was sie sagten und womit ich nicht einverstanden war. Dadurch lernte ich sehr viel über alle Strömungen unseres Glaubens. Aber dann konvertierte ich zur „Church of Jesus Christ of Latter-day Saints”, weil es hier einen kleinen Grundsatz gibt, nämlich dass niemand verdammt wird. Das ist der Standpunkt, den wir meiner Meinung nach in jeder aktuellen Religion einnehmen müssen. Denn du kannst sicher nachvollziehen, dass eine andere Religion, die dich verurteilt, wenn du ihr nicht angehörst, außerordentlich unzusammenhängend oder unaufrichtig ist. Kann es noch lächerlicher werden als das? 

Deshalb bin ich an die UNC [University of North Carolina; Anm. von LS] gekommen, um Philosophie zu studieren, denn für mich sind diese Debatten entscheidend. Und anders als in meinem Grundstudium in Englisch und Philosophie. Diese Elemente waren für mich also sehr wichtig, als ich aufgewachsen bin. Wie du sehen kannst, respektiere ich die Grundwerte und lehre junge Männer und Frauen, ein Leben zu führen, das von Prinzipien geprägt ist. Für mich ist das unsere Mission. Das ist unsere Aufgabe als menschliche Wesen: Einander dabei zu helfen, dass wir alle ein Leben führen, das von Prinzipien geprägt ist.

Ich bin nur beeindruckt, weil die Einflüsse aus so vielen verschiedenen Ländern wie Äthiopien und Singapur so breit gefächert sind. Wenn ich das nur vergleiche, ist es verrückt.

Gibt es auch eine lustige Geschichte, die Sie durch den Fußball erlebt haben? Vielleicht während einer Ihrer Auslandsreisen?

Normalerweise ist es eine lustige Geschichte auf Kosten eines Spielers. Ich glaube, meine Lieblingsgeschichte, als ich die Männer trainierte, ist: Natürlich ist das ein Kontaktsport. Was ich an der EPL [Premier League; Anm. von LS] im Moment hasse, ist: Jedes Mal, wenn jemand im Strafraum angeschossen wird, fällt er um, als hätte ihn ein Scharfschütze getroffen, und ich hasse die Leistung in diesen Spielen. Denn um Fußball zu spielen, muss man sehr zäh sein, und man muss ständig treffen und trainieren, und diese Leute, die im Training getroffen werden, rollen nicht sechs oder sieben Mal weiter. Um sechs oder sieben Mal eine Rolle zu machen, braucht man übrigens unglaublich viel Kraft. Glaub‘ mir also, wenn man wirklich schwer verletzt ist, macht man nicht sechs oder sieben Umdrehungen. Man rollt nur einmal und dann hört man auf. Und das ist das Problem. Was ich also nicht mag, ist, all diesen Spielern dabei zuzusehen, wie sie über den Platz rollen. Das macht mich verrückt.

Anson Dorrance’ Ideen, wie das Spiel positiv verändert werden könnte

Das kommt viel öfter bei Fußballspielen der Männer vor, oder? Das ist mein Eindruck. Frauen stehen sofort wieder auf, auch teilweise, wenn sie im Zweikampf direkt mit den Köpfen zusammengestoßen sind. Und die Männer bleiben oft am Boden liegen, obwohl nichts passiert ist. Unglaublich!

Es ist unglaublich und du hast Recht. Aber das Spiel der Frauen ist – naja, wir spielen nicht so viel wie die Männer. Das Spiel der Frauen ist ein ehrenhafteres Spiel. Ich stimme dir wirklich zu, denn ich bin angewidert von der Entwicklung des Fußballs der Männer. Ich denke, wir sollten anfangen, die Regeln zu ändern. Ich meine, wir sollten die Sündenbank einführen. Die Sündenbank ist das, was im Eishockey passiert, wenn ein gewalttätiger Spieler für zwei Minuten vom Eis genommen wird, weil er zu aggressiv war. Ich denke, wir müssen unseren Schiedsrichtern mehr Möglichkeiten geben, und wir müssen auch die Regeln für die Strafbank ändern. Denn wenn ein Spieler, der vom Tor wegdribbelt, von jemandem am Fuß erwischt wird und in der hinteren Ecke des Strafraums zusammenbricht, während er vom Tor wegdribbelt, dann gibt es einen Strafstoß. Das ist ein Elfmeter. Wollt ihr mich verarschen? Da war keine Gerechtigkeit im Spiel! Ich bin der Meinung: Damit es zu einem Elfmeter kommt, muss es eine Torchance gegeben haben. Und es muss eine Absicht des Verteidigers vorliegen!

Wie lautet Ihre Meinung zum VAR (Video Assistant Referee) in der Bundesliga?

Ich denke, er kommt der Wahrheit auf die Spur. Also, ich habe kein Problem mit dem VAR. Aber was mich stört ist die Anzahl der Elfmeter, die gegeben werden. Das sind richtige Strafstöße, die werden gewertet. Es gibt keine echte Torchance. Ich denke, das ist ein Problem für mich. Aber wir geben den Schiedsrichtern auch nicht genügend Instrumente an die Hand. Der Schiedsrichter muss in der Lage sein, einen Spieler vom Platz zu verweisen. Und er kann den Spieler aus allen möglichen Gründen vom Feld verweisen. Meiner Meinung nach ist das ein wichtiger Punkt: Der Trainer muss darüber nachdenken, was zu tun ist, und die Spieler müssen das auch tun. Jetzt sind sie also ein Mann weniger. Wie kann man das ausnutzen? Ich liebe das alles. Ich hasse Elfmeterschießen, die das Spiel entscheiden. Ich denke, wenn man in die Verlängerung gehen will, gefällt mir vor allem die amerikanische Lösung: Golden Goal. Sobald man ein Tor schießt, ist das Spiel vorbei. Man muss also nicht 30 Minuten nachspielen, um zu sehen, wer der Sieger ist. Und wenn es dann immer noch unentschieden steht, gibt es ein Elfmeterschießen – nein! Jemand schießt ein Tor, BANG, das Spiel ist vorbei. Aber ich denke auch, dass man alle fünf Minuten einen Spieler vom Feld nehmen sollte. Bei beiden Mannschaften. Und sobald die Nachspielzeit beginnt, sollte das Abseits abgeschafft werden. Nach fünf Minuten steht es dann 10 gegen 10. Nach zehn Minuten heißt es 9 gegen 9. Nach fünfzehn Minuten heißt es 8 gegen 8. Und weil das so interessant ist, würde mir Folgendes gefallen: Als Trainer würde ich gerne entscheiden, wen ich aus dem Spiel nehme und wen ich im Spiel lasse und wie meine Formationen aussehen werden, denn denk daran… Kein Abseits mehr!

Das wäre sehr interessant, ganz anders.

Das wäre ein unglaubliches Spiel, denn es geht um die Räume!

Und auch für die Zuschauenden interessant, die Trainer zu beobachten, wie sie dann entscheiden. Denn man hat den Druck. Man hat nicht viel Zeit, sich zu entscheiden!

Ja! (begeistert) Die Zuschauenden werden es lieben und sie alle werden anderer Meinung sein als der Coach. Die Kommentierenden werden sich nach dem Spiel über die Entscheidungen, die die Trainer*innen getroffen haben, auslassen. Aber auch das Spiel endet mit dem Ergebnis. Man sollte das Abseits abschaffen und es würde ein frühes Tor geben. Man sollte Spieler*innen herausnehmen, denn ich hasse Elfmeter. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, eine arme, liebe junge Frau zu schützen, die dafür gesorgt hat, dass wir eine nationale Meisterschaft verloren haben, weil sie das Tor verfehlt hat. Es ist nicht ihre Schuld. Lasst uns einen anderen Weg finden, bei dem das Team verliert, nicht eine Spielerin. Ich hasse es einfach. Aber ich mag auch die Anzahl der Strafen nicht, die derzeit verhängt werden. Das ist lächerlich! Keine Torchance. Ich mag den Schiedsrichter, weil er der Wahrheit auf den Grund geht. Und wenn der Schiedsrichter sagt, dass der Spieler eine Schwalbe gemacht hat, möchte ich, dass er vom Platz gestellt wird, weil ich das System der gelben Karten nicht mag.

Man muss die Karten immer nachzählen. Hat der Spieler jetzt fünf Karten?

Stimmt. Denn im Grunde ist die erste gelbe Karte keine Strafe. Oder ein anderer Spieler muss aufpassen. Wenn der Spieler ein grobes Foul begeht, muss man ihn bestrafen: Schmeißt ihn vom Feld! Also ja, eine gelbe Karte bedeutet, ihn für 20 Minuten vom Feld zu nehmen.

Haben Sie schon mit dem Fußballverband gesprochen und Ihre Ideen vorgeschlagen?

Die ganze Zeit. Ich habe mit allen gesprochen, auch mit den Journalisten, und sie sind einfach anderer Meinung als ich. Sie sind altmodisch. Ich hasse das. Wir sollten die Strafbank einführen! Den Schiedsrichtern mehr Möglichkeiten geben!

Oder einfach ein Pilotprojekt machen, um es auszuprobieren und ihnen die Vorurteile zu zeigen?

Nun, ich leite jeden Sommer ein Fußballcamp. Dort waren Kinder, die alle zu uns gekommen sind, und wir haben natürlich Camp-Turniere veranstaltet. Im letzten Spiel des Camps spielen sie um den 1. Platz, den 3. Platz, den 5. Platz usw. usw. Wenn es am Ende eines Spiels unentschieden stand, spielten wir in der Verlängerung ohne Abseits und mussten sofort alle fünf Minuten eine*n Spieler*in vom Platz stellen. Und wenn es dann 5 gegen 5 stand, gab es in der Regel schon ein Ergebnis.

Was haben die Spieler*innen gesagt?

Sie lieben es! Und die Eltern lieben es, denn die Spannung ist unglaublich! Kein Abseits! Keiner schreit wegen Abseits oder wegen irgendetwas anderem. Und wen lässt man auf dem Spielfeld zurück? Dann ist es wie bei den Gladiatoren. Wer sind deine Gladiatoren? Ich liebe es. Schließlich bleiben zwei Spieler*innen übrig, eine*r von jedem Team. Wer ist der Gladiator? Das sind Dinge, über die wir alle reden können. Und für mich ist es eine so einfache Lösung. Und sie beendet alles. Es ist wie beim Drei-Punkte-Wurf im amerikanischen Basketball. Der war eine großartige Ergänzung zum Basketball. Und so, ja, lasst uns den Fußball immer spannender machen. Hören wir also mit dem Elfmeterschießen auf, reden wir über den langweiligsten und schrecklichsten Moment im Spiel. Das ist furchtbar. Es macht keinen Spaß, zuzusehen. Es ist peinlich anzuschauen. Und die einzigen, die zufrieden aus dem Elfmeterschießen herausgehen, sind die, die gewinnen. Niemand freut sich über den Zweiten.

Nein, es ist furchtbar für sie.

Es ist schrecklich für sie, aber auch für die/den arme*n Spieler*in, der verschossen hat.

Ich denke da nur an Bastian Schweinsteiger im Champions-League-Finale, als sie 2012 in München verloren haben. Er sagte, dass er sehr lange darüber nachgedacht hätte.

Ich hasse das. Denn ich mag meine Spielerinnen und ich möchte nicht, dass sie dadurch eingeschüchtert werden.

Ich verstehe das. In meinen Augen ist es eine gute Idee, es auszuprobieren.

Es gibt so viel über Fußball zu reden, die ganze Zeit.

Ich stimme voll und ganz zu, dass dieses Spiel ein wunderbares Spiel ist, an dem man teilhaben kann.

Wissen Sie schon, an wen Sie das Buch weiterreichen möchten?

Ich habe das Buch bereits Madi Pry gegeben. Der Grund, warum ich es Madi gegeben habe, ist, dass Madi wegen ständiger Verletzungen nicht mehr für uns gespielt hat. Also habe ich es ihr gegeben, weil sie so schön schreibt und ich sie wirklich respektiere, und sie wird es innerhalb unseres Teams weitergeben.

Das ist großartig. Vielen Dank für Ihre Zeit.

Ich danke dir, Lisa. Ich bin begeistert von diesem Gespräch. Viel Glück für dich.

Interview mit Kristian Barbuscak

Bild_Interview mit Kristian Barbuscak
Kristian Barbuscak ist seit November 2014 als Torwarttrainer beim SSV Jahn Regensburg tätig. Foto: Lisa Schatz

Fußball international. Als ich beim Training des Drittligisten SSV Jahn Regensburg zusah, fiel mir der Perfektionismus des Torwarttrainers, Kristian Barbuscak, auf. Aufbau und Durchführung der Trainingseinheit: absolut akribisch. Seine Schüsse: perfekt gespielt. Er ließ seine Jungs mit Augenklappen trainieren und baute weitere Elemente ein, die ich bislang selten oder nie bei anderen Torwarttrainern beobachtet habe. Nach dem Training sprach ich ihn an und lernte einen weltoffenen Menschen mit einer äußerst interessanten Hintergrundgeschichte kennen. Er kam im Alter von 15 Jahren alleine nach Deutschland, um beim FC Bayern München zu spielen und eine Ausbildung zu absolvieren. Danach ging es über Lazio Rom, Austria Wien und die Grashoppers Zürich zu den New York Metro Stars. Als er mir davon erzählte, wurde ich neugierig und beschloss, euch seine einzigartige Geschichte in Form eines Interviews näherzubringen.

Herr Barbuscak, wollten Sie schon immer im Profifußball arbeiten oder gab es zwischendurch auch andere Pläne?

Unbedingt. Für mich als aktiver Torhüter hat sich diese Leidenschaft einfach nie in Frage gestellt. Mich haben zwei Schwerpunkte im Fußball interessiert: Der des Torwarttrainers, was ich jetzt ausüben darf, und auch der organisatorische Bereich, also das Teammanagement. Ich durfte ziemlich viele Hospitanzen machen, fast weltweit. Bei diesen war für mich nicht nur das spezifische Torwarttraining der Kollegen wichtig, bei welchem ich sehr viel lernen durfte. Für mich war es auch von großer Bedeutung, mich mit dem Busfahrer, Zeugwart, Fanshop-Mitarbeiter, mit der Sekretärin der Geschäftsführung, mit dem Koch und dem Teammanager zu unterhalten. Das hat mir sehr gut gefallen. Angenommen, ich dürfte nicht Torwarttrainer sein, dann wäre ich wohl Teammanager.

 

„Gerade die Stimmen der Menschen im Hintergrund sind wichtig“

Sie haben schon perfekt übergeleitet. Wie wichtig ist Ihnen Querdenken? Gerade, wie Sie es gerade formuliert haben, und inwieweit fließt es in das Torwarttraining mit ein?

Von außen betrachtet sehen viele den Fußball wohl so: Es gibt einen Kader mit 24 Spielern und den Trainerstab von vier Personen und das war’s. Aber im Fußball sind viel, viel, viel mehr Menschen wichtig. Viel mehr. Und die Stimmen gerade den Mitarbeitern oder den Leuten zu geben, die nicht im Fokus stehen, sondern Drumherum, im Hintergrund für den Verein arbeiten, das ist von hoher Bedeutung. Diese Stimmen sind sehr wichtig. Gerade für mich. Wie sich das im Torwarttraining widerspiegelt? Wahrscheinlich gar nicht direkt. Aber da ich durch meine Erfahrung gelernt habe diesen Menschen zuzuhören, kann ich das Aufgenommene quasi in meiner Arbeit integrieren und insofern – wenn ich die guten oder die schlechten Launen des Torhüters erkenne – darauf reagieren oder entsprechend agieren.

Also auch in Richtung Persönlichkeitsentwicklung?

Definitiv. Wenn sich der Torhüter aufregt, dass der Platz nicht perfekt gemacht worden ist und ich mich sowieso noch mehr darüber aufrege, jedoch weiß, warum der Platz nicht so gemacht werden kann wie beim FC Bayern oder Real Madrid, versuche ich mich erstmal in die Lage des Platzwartes zu versetzen und dann schließe ich eine Brücke zwischen seinem Bereich und meinem Bereich. Dann versuche ich eine gute Stimmung zu erschaffen.

 

Über das Ballett zum Fußball

Wie sind Sie überhaupt zum Fußball gekommen?

Ich hatte leider mit vier Jahren einen Unfall, nach welchem mein kleiner Finger amputiert wurde. Nach der Amputation war ich als Kind in einem Schockzustand über mehrere Wochen. In der Zeit habe ich nicht gesprochen, ich war wirklich total still. Nach beliebigen Fragen meiner Eltern, vor allem von meiner Mutter, ob ich Hunger habe, ob ich Süßigkeiten möchte, Geschenke, ob ich sie liebe, habe ich keine Antwort von mir gegeben. Sie haben versucht verschiedene Therapien einzusetzen. Sie sind zum Beispiel mit mir ins Kino gegangen. Aber ich war immer traurig und durch die Amputation gekennzeichnet. Eines Tages gingen wir zum russischen Staatsballett. Ich habe gesehen, wie die Menschen elegant tanzten und angefangen zu reden. Dann brachte mich meine Mama in die Tanzschule und dann habe ich im Alter von fünf Jahren ungefähr zehn Monate lang Ballettübungen gemacht. Man sagte mir damals, dass ich sehr talentiert sei, und ich bin sehr gerne dorthin gegangen. Ich war der einzige Junge dort bei den Mädels und meine Mutter fand es toll, aber nicht bezüglich des Sports, sondern dass ich wieder angefangen habe zu reden und mich normal zu verhalten.

Weshalb hat Sie gerade das Ballett derart fasziniert, dass Sie wieder begonnen haben zu sprechen?

Ich weiß es nicht. Warum gerade Ballett, warum nicht Kino oder Pferde? Meine Eltern haben so viel versucht. Ich weiß nicht, wieso Ballett. Wahrscheinlich die Eleganz, das Gefühl für Feinheit und für Perfektionismus. Mein Dad war selbst Sportler, aber nicht im Ballsport, sondern er ist Fahrrad gefahren. Er hat sich die Entwicklung meiner Person in diesem einen Jahr angeschaut. Als er eines Tages nach Hause kam, hat er angedeutet: „Ja, das ist nix für Jungs. Also schon, aber man entwickelt sich zu einer anderen Art von Männlichkeit“. Er entschied: „Ab morgen spielst du Fußball“. Dann habe ich mit dem Ballett aufgehört.

Einfach so, ohne Widerrede?

Ja, ich habe gesagt, ich möchte nicht mehr. Ich war sechs Jahre alt. Ich bin im Kommunismus aufgewachsen. Bei uns in der Tschechoslowakei – gerade was den Sport anbelangte –  wenn man talentiert war, wurde man gefördert. Man wurde gleich der Elite zugeordnet und so kam ich zu einer Aufnahmeprüfung zu einem Verein, der das in der Tschechoslowakei war, was der FC Bayern München für Deutschland ist: Slovan Bratislava. Dort gab es eine eigene Sportschule mit Eliteklasse. Dort musste ich eine einwöchige Aufnahmeprüfung machen. Die letzten beiden Tage waren nur Spiele. Es wurde schnell aussortiert, ohne jegliches Gefühl für den Menschen. Das war damals im Kommunismus so. Ich habe es geschafft, unter die besten Hundert zu kommen. Zwanzig Spieler und zwei Torhüter wurden genommen. An den beiden Tagen mit den Spielen waren mehrere Trainer anwesend. Die Gruppe, in der ich war, wurde von einem Trainer gefragt: „Möchte jemand von euch freiwillig ins Tor gehen?“. Ein Kind zeigte auf mich und sagte: „Den brauchst du nicht fragen, weil er nur neun Finger hat“. Und das im Alter von sechs Jahren! Da habe ich mir gedacht: „So, jetzt erst recht“. Heute bin ich dankbar dafür, dass der Junge das gesagt hat, weil ich sonst nicht da wäre, wo ich bin. Somit war mein ganzes Leben durch mein Handicap geprägt: Ich musste immer mehr trainieren als die anderen. Ich war häufiger verletzt als die anderen. Der Finger neben dem amputierten war oft ausgekugelt. Aber das war für mich nie eine Entschuldigung. Ich habe immer mehr an der Sprungkraft gearbeitet, an der Reaktionsschnelligkeit. Ich war nicht talentiert. Im Kommunismus gab es kein Talent. Man hat hart gearbeitet. So richtig hart, ja. So kam ich zum Fußball.

 

Von der Tschechoslowakei zum FC Bayern – im Alter von 15 Jahren…

Wie ging es danach weiter?

Bis zu meinem 15. Lebensjahr war ich in der Elite. Diese beendete ich mit dem Hauptschulabschluss. Das war damals so. Danach konnte man noch das Abitur oder eine Ausbildung machen. Aber für mich ging’s nach Deutschland. Meine Eltern blieben in der Tschechoslowakei. Es gab im Jahr 1992 ein Turnier in der Nähe von Fürth, bei dem ich mit der Nationalmannschaft oder mit der Auswahl dabei war. Ich habe damals ein paar ganz gute Bälle gehalten. Dort wurde man auf mich aufmerksam. Im selben Jahr bot – durch die Grenzöffnung – die Bayerische Bauindustrie der Tschechoslowakei eine Kooperation an. Die – vom Schulergebnis her – fünfzig besten Kinder bekamen die Chance, eine Ausbildung in Bayern zu machen. Und es kamen 51 Kinder nach Bayern… Wir mussten an einem Schnelldeutschkurs teilnehmen, um eben eine Ausbildung in Deutschland machen zu können. Schon vorher wurde ausgemacht, dass ich auf Grund des Fußballs, eine Ausbildung in München machen muss wegen des FC Bayern. Ich kam her, habe mich gleich verletzt. Erste OP, am Meniskus. Dann wurde ich zwei Jahre an die SpVgg Unterhaching ausgeliehen. Dort spielte ich zwei Jahre und kam dann zurück zum FC Bayern.

Wie war es in dieser Zeit mit dem Heimfahren, mit Heim- und Fernweh? Oder haben Sie sich erstmal gefreut, ein Abenteuer zu erleben und in ein neues Land zu kommen?

Ich kam mit 15 Jahren hierher und bekam eine eigene Wohnung. Am Anfang war das Ganze schon etwas seltsam für mich. Meine Eltern zum Beispiel mussten acht Jahre lang für eine Mikrowelle sparen, welche es bei uns nicht gab. Dann ging die Grenze auf und wir haben uns diese Mikrowelle gekauft. Ich bin im Plattenbau aufgewachsen. In dem einen großen Block, in welchem vierzig Familien gewohnt haben, hatten wir als einzige eine Mikrowelle. Ein Nachbar hatte einen Videorekorder. Ich kam nach Deutschland und hatte alles. Mein erster Gedanke war, alles mit nach Hause zu nehmen und zu verschenken. Bei uns im Supermarkt gab es nur zwei Marmeladen: eine rote und eine gelbe. Und wir waren alle glücklich und zufrieden. Da gab es keinen Streit. Man kannte nichts anderes. Und da kam ich hierher und es gab vierzig verschiedene Marmeladen. Und dann gab es Menschen, die eine bestimmte wollten, die es gerade nicht gab und sie regten sich voll auf und für sie war der ganze Tag im Eimer (nachdenklich).

Also, die ersten Monate waren ganz cool für mich, weil ich das erste Kind war, das – was Fußball anbelangte – aus der Tschechoslowakei zum FC Bayern oder hier nach Deutschland gewechselt ist. Man wird mit so vielen materiellen Sachen konfrontiert. Als Kind habe ich in der Tschechoslowakei eine Trainingshose bekommen, ohne Marke. Und ich habe eine Regenjacke und Gummifußballschuhe erhalten und das war’s. Hier in Bayern habe ich auf einmal drei kurze und drei lange Trainingsanzüge bekommen sowie zwanzig Paar Handschuhe mit Logo. Wirklich unvorstellbar. Die ersten drei Monate waren nur Kennenlernen und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen echten Porsche gesehen, nicht nur als Matchbox-Auto. Und der Supermarkt! Im Regal habe ich für meine Mikrowelle Fertiggerichte in x verschiedenen Variationen gesehen. Also, das war schon heftig.

 

Als man die Dinge noch viel mehr zu schätzen wusste…

Dann gab’s den ersten Urlaub über Weihnachten. Damals war ich zwei Wochen zu Hause. Ich kam heim und hab mich wie ein kleiner Star gefühlt. Alle wollten wissen, wie es draußen sei, und alle haben mich bewundert und die neuen Klamotten, die ich anhatte. Als ich hierher zurückkam, musste ich hart arbeiten. Hier habe ich keine Bewunderung erfahren. Von niemandem. Dann bekam ich Heimweh. Mir haben meine Freunde gefehlt, extrem meine Eltern. Ich war alleine und habe viel weinen müssen und dürfen. Nach den Spielen war es für mich immer sehr schwierig: Die anderen Spieler sind da mit ihren Familien immer gleich essen gegangen, Omas, Opas und Tanten waren da. Ich bin dann alleine in die Straßenbahn gestiegen und nach Hause gefahren. Also, es war eine enorm harte und gute Schule fürs Leben. Ich würde es wieder machen. Zu der Zeit, in der ich mich befand.

Ich habe einen 13-jährigen Sohn. Angenommen, er hätte jetzt die Gelegenheit, dass er mit Fünfzehn von Deutschland nach Amerika oder England – aber heute kann man das nicht so vergleichen – kommen könnte, glaube ich, dass ich mit ihm mitgehen würde. Aber zu der Zeit damals war die Welt noch mehr „in Ordnung“. Gerade in Bayern und gerade in München. Man hat die Dinge viel mehr geschätzt. Für mich war das etwas ganz Besonderes, dass ich in diese gelbe Telefonzelle gehen durfte und meine Mama anrufen konnte. Es gab kein Handy.

Gab es damals auch schon ein Jugendhaus beim FC Bayern?

Nein, ich habe eine Wohnung von der Firma gestellt bekommen, bei der ich die Ausbildung absolviert habe.

Wie gut konnten Sie die Ausbildung mit dem Training koordinieren?

Die Schule und alles andere war an den Fußball angepasst. Die allgemeinen Werte waren ganz anders. Ich habe meiner Mama einen Brief geschrieben. Handschriftlich. Und meine Mama hat mir auch so geantwortet. Dann bin ich jeden Tag von der Schule oder vom Training nach Hause gegangen und habe den Briefkasten mit so einem Herzschlagen aufgemacht. Wenn ein Brief darin war – zwölf Seiten, die mir meine Mama abends am Tisch geschrieben hat, als mein Vater und mein Bruder schon schliefen, dann konnte ich mir das exakt vorstellen: Der Geruch der Küche, in der ich aufgewachsen bin. Ich finde es schade, dass viele Menschen diese Werte heute verloren haben und dass soziale Medien alles andere übertreffen. Nichtsdestotrotz ist die Technik heute sehr vorteilhaft. Ich hätte damals alles gegeben, wenn ich einen Videoanruf hätte tätigen können. Alles hat Vor- und Nachteile.

Wie haben Sie die Zeit beim FC Bayern erlebt? Wie schnell wurden Sie integriert?

Die ganze Mannschaft hatte Respekt vor mir, dass ich alleine in Deutschland war. Und ich war für alle etwas ganz Besonderes – ich hatte hier zwar nicht meine Eltern und auch keine Unterstützung von anderen Außenstehenden – aber ich war der einzige in der Mannschaft, der eine eigene Wohnung hatte. Da war der Neid schon extrem. Mein Trainer war damals Gerd Müller, der Co-Trainer war Jürgen Press.

Wussten Sie schon vorher, wer Gerd Müller ist?

Ja, wir hatten einen Fernseher und als Kind waren mir Namen wie Müller, Beckenbauer, Maier und Breitner bekannt. In München habe ich ihn dann zum ersten Mal in Echt gesehen. Ich habe das erst viel später verstanden, aber das Schicksal, das Gerd Müller nach seiner Zeit als Fußballprofi getroffen hat, hat ihn vielleicht menschlicher gemacht. Ich habe mich mit ihm ein paar Mal unterhalten. Die Gespräche waren für mich von großer Bedeutung. Wenn ich Heimweh hatte oder wenn mich irgendetwas geärgert hat, hat er mir zugehört und er hat mich verstanden. Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich darüber spreche. Also, ein totales Gegenteil von Sepp Maier. Dieser war mein Torwarttrainer. Das war eben harte Schule. Da war Gerd Müller menschlicher. Der Co-Trainer war der Coach, und Gerd Müller war der Mentor. Ich hatte eine sehr schöne Zeit in München. Und in der Bewunderung der ganzen Profis wie Kahn, Helmer, Matthäus, Basler, Ziege, Nerlinger und Klinsmann, das war schon etwas Besonderes.

 

In der Welt der Proficlubs

Wie lange hat es gedauert, bis Sie das alles realisiert haben? Sie wurden da ja richtig ins kalte Wasser geschmissen: Ein neues Land, eine neue Sprache, eine neue Kultur und der große FC Bayern München.

Für mich war das dadurch, dass ich in der Tschechoslowakei in der Schule in einer Mannschaft des besten Vereins war, von den spielerischen Elementen her kein großer Unterschied. Mein Team in der Tschechoslowakei war auch nicht schlecht. Wir waren von den technischen und taktischen Elementen her nicht so gut wie die Spieler beim FC Bayern, aber wir konnten besser laufen und härter arbeiten als diese. Wir konnten in der Tschechoslowakei vielleicht zwei, drei Finten mit einem Übersteiger, und Schere und Zickzack. Aber wir konnten nicht Zidane und Doppelpass. Also, das Spiel von Bayern war schon anders.

Wie ging es weiter? Sie haben ja sehr oft den Verein gewechselt…

Ja, leider. Auf Grund der Qualität wurde ich beim FC Bayern nicht übernommen. Es gab einfach bessere. Zum einen Tomic. Dieser musste dann auch wechseln, als Gospodarek kam und Ersatz von Oliver Kahn wurde. Tomic ist Augenthaler damals nach Graz gefolgt und ich bin zu Lazio Rom gegangen. Dort war Dino Zoff als Präsident tätig. Er war mit Trappatoni befreundet, welcher damals Trainer beim FC Bayern München war. Mein Landsmann bei Lazio Rom war Pavel Nedvěd. So kam ich nach Italien. Aber leider gab es eine Regel, auf Grund derer nur drei EU-Ausländer spielen durften, und somit bin ich gleich nach Wien weiter. Dort hat es auch nicht so richtig funktioniert. Ich habe es leider immer nur geschafft, die Nummer 1 in der B-Mannschaft zu sein. Also in dieser U21, U23 damals: der Zweiten. Es war so ähnlich wie es jetzt hier in Regensburg mit dem dritten Torwart ist. Er trainiert zwar mit und ist im täglichen Geschäft mit drinnen. Aber wenn es dann um die Spiele geht, ist er nicht im Kader.

Dann habe ich mein Glück versucht, so schnell wie möglich auf Profilevel zu kommen, und mich entschieden, von dieser Topliga, also von der deutschen bzw. italienischen, irgendwohin zu gehen, wo ich mehr Chancen bekommen würde. Ich ging nach Wien, wo mich der Trainer aber nicht so mochte. Der Torwarttrainer und der Präsident kamen gut mit mir klar, aber der Cheftrainer hatte ein Problem mit mir. So kam ich in die Schweiz.

Lagen Ihnen die Angebote der Vereine damals schon vor oder haben Sie selbst bei den Clubs angefragt?

Nein. Ich war damals in der Nationalmannschaft. Es gab damals schon ein paar Spieler, die im Ausland gespielt haben. Ich habe mich mit ihnen unterhalten und wusste, wo eventuell ein Torhüter gebraucht werden konnte. Dort habe ich angerufen und gesagt: „Ich komme vorbei“. Dann kam ein entscheidender Punkt: Es gab Interesse eines türkischen Vereins. Für mich war aber die Türkei damals – ich weiß nicht warum – keine Option. Gleichzeitig lernte ich in Zürich einen Italiener kennen, der sehr gute Kontakte nach Amerika hatte. Dort gab es einen Manager, der wiederum Kontakt zu den Metro Stars in New York hatte. Dorthin wechselte Matthäus und ich wechselte zu deren zweiter Mannschaft.

Wie sind Ihre Eltern mit Ihrer Situation umgegangen? Haben sie sich gefreut, dass Sie neue Länder kennen lernen konnten, oder war es für sie eher schwierig, dass Sie weg waren?

In dem Alter, in dem ich diese Möglichkeiten bekommen habe, neue Welten, neue Menschen, neue Mentalitäten, neue Sprachen kennenzulernen, in dieser Zeit waren meine Eltern einfach hinter einer riesigen Mauer und sie waren durch den Kommunismus eingesperrt. Sie haben sich sehr gefreut, dass ich diese Möglichkeit bekommen habe, und haben mich da unterstützt. Wir waren ständig in telefonischem und schriftlichem Kontakt. Heute bin ich sehr dankbar dafür. Ich spreche sieben Sprachen und kenne viele Menschen. Das hat was.

 

Das Essen baut Brücken zwischen den Menschen

Wie haben Sie die Sprachen gelernt? Haben Sie Unterricht genommen oder haben Sie tatsächlich das Wichtigste über den Fußball aufgenommen?

Ich habe leider keine einzige Sprache in einem Kurs gelernt. Daher kann ich keine Sprache perfekt. Nicht einmal meine Muttersprache. Es ist oft so: Wenn ich meiner Mutter eine SMS in unserer Sprache sende, schreibt sie zurück: „Kind, das ist nicht gut“. Mein Urgroßvater war ein amerikanischer Konsul in der Tschechoslowakei. Meine Familie kommt mütterlicherseits aus Ungarn, väterlicherseits aus Amerika. Er kannte dreizehn Sprachen in Wort und Schrift. Wahrscheinlich durfte ich da irgendetwas erben. Ich interessiere mich sehr für neue Kulturen. Auf allen Stationen meiner Karriere ist mir aufgefallen, dass Essen die beste Brücke zwischen den Menschen ist. Es ist ein sehr wichtiges Element, wenn man neue Kulturen kennenlernt. Ich glaube, es gibt kein Geschenk auf diesem Planeten wie ein so ehrliches Lachen oder eine derart positive Ausstrahlung des Gegenübers, wenn man es mit einem guten Essen beeindrucken kann. Ich war einfach oft und sehr gut essen. Man öffnet sich und fängt an zu sprechen. Ich glaube, dass mir die Kommunikation beim Essen diese Scheu und Angst genommen hat, einen grammatischen Fehler zu machen, sodass mich jemand auslachen könnte.

 

Über das Torwarttraining zur damaligen Zeit

Worin hat sich der Trainingsalltag in den Ländern voneinander differenziert? Sie haben schon davon gesprochen, wie es bezüglich der Technik, Taktik, Kondition und dem Zweikampfverhalten war. Wie war zum Beispiel nochmal der Unterschied zwischen dem Training beim FC Bayern und in New York bzw. zwischen dem FCB und Lazio Rom?

Die beste Torwartschule – allgemein das Spiel – war in Rom. Wobei ich ganz ehrlich sagen muss: Ich durfte von diesem Fußballkuchen nur vier Jahre lang kosten. Auf Grund einer schweren Verletzung musste ich meine Karriere als Aktiver sehr früh beenden. Meine Bänder und mein Knie waren so kaputt, dass ich bei einem neuen Verein keinen Medizincheck überstanden hätte. Dann kam eben die Neuorientierung in Richtung Trainerwesen. Ich hab damals einfach alles so gemacht, wie man es mir gesagt hat, aber nicht die Unterschiede gesehen, wie ich sie heute sehe. Damals gab es noch keine Torwarttrainer. Die Ausbildung dazu hat noch nicht existiert. Ich hatte einfach gute Ersatzspieler, die sehr gut schießen konnten. Auch mein Torwarttrainer in Rom konnte sehr gut schießen. Ja, und das war eigentlich das Training. Dass ich durch diese Qualität der Schüsse so nah wie möglich an das Spiel kam.

Und die Antizipation des Torhüters war noch gar kein Thema?

Gar nicht. All das, was ich jetzt mit meinen Torhütern übe und ihnen lerne, wäre damals meines Erachtens eine Revolution gewesen. Ich weiß nicht, ob damals ein Torhüter diese Art von Training hätte absolvieren können.

 

Von der Münchner Disziplin bis zur italienischen Leichtigkeit

Welche Kultur hat Sie am Meisten fasziniert?

Ich glaube, dass die Mischung das Interessante an dem Ganzen ist. Ich mag München sehr: für seine Sauberkeit, für seine gewisse Art von Charme. Mir gefallen die Disziplin und die Ordnung sehr. Wenn ich zu diesem „Münchner Cocktail“ ein Element hinzumische, vermisse ich die Leichtigkeit der Römer, den Stolz der römischen Menschen, die das Leben lieben und genießen. Ich übertreibe jetzt mal ganz bewusst: Für einen Münchner ist es wahrscheinlich wichtig, dass er nach der Arbeit in sein schickes Auto steigt und nach Hause fährt, wo er sich auf sein x-tausend Euro teures Sofa setzt und Nachrichten oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ anschaut. Ein Italiener hat kein Auto, er fährt mit einem Fahrrad, welches in Deutschland wahrscheinlich nicht mal den TÜV bestehen würde – wäre ein TÜV erforderlich – und setzt sich mit anderen Menschen an den Tisch, unterhält sich mit ihnen und sie lieben das Leben. Das war eine riesen Lehre für mich. Wirklich toll.

Die Fähigkeit, etwas perfekt zu machen, und gerade die Elemente der Gastronomie derart gekonnt einzusetzen und die Sauberkeit und Ordnung – dahingehend habe ich sehr viel von Wien gelernt. Die Österreicher sind darin echt genial. Dann: Die Pünktlichkeit der Schweizer! Ihr Lebensstil, auch ihre Ordnung und Sauberkeit, das Miteinander, das Respektvolle, das hat mir sehr gut gefallen. Dann kommen wir zu dem krassesten Abschnitt meiner Laufbahn als Spieler: Ich glaube, es gibt nur wenige Städte auf diesem Planeten, in denen mindestens eine Person von allen Völkern der Erde lebt, und das ist New York City. Ich denke, dass die zweite Dubai sein müsste. Für mich hat New York vom Fußballerischen her gar keine Weiterentwicklung bedeutet. Aber kulturell betrachtet auf jeden Fall.

Gibt es eine Anekdote, die Sie – vielleicht damals, auf Grund der Sprachunterschiede – erlebt haben?

Als ich mit 15 Jahren nach Deutschland kam, konnte man sich über den Teletext – soziale Medien gab es damals noch nicht – daten. Darüber haben drei meiner Mitspieler vier Mädels gedatet und mich gefragt, ob ich mitkommen möchte. Ich sprach kein richtiges Deutsch und sagte nur: „Ja, gut, ich komme mit. Wie viel Geld muss ich mitnehmen?“. Einer meinte, dass fünf Mark reichen würden. Davon konnte man sich damals ein Spezi und eine Leberkäsesemmel kaufen: also eine super Sportlerernährung (lacht). Wir haben uns dann tatsächlich mit den vier Mädels getroffen. Die anderen haben sich alle miteinander unterhalten. Ich habe kein Wort verstanden. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass es um Horoskope ging. Die Mädchen haben jeden von uns gefragt, welches Sternzeichen wir seien. Als sie mich fragten, was ich sei, habe ich gesagt: „Torwart“. Alle haben gelacht. Sie haben es mir erklärt und ich meinte: „Ja, ok, ich bin Fisch“ (lacht).

 

„In meinem Zimmer hing die Karte des Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds“

Wenn Sie nochmal auf Ihre bisherige Zeit im Fußball zurückblicken: Welches war Ihr schönstes Erlebnis?

Das waren ziemlich viele Momente und sehr, sehr schöne Momente in der Jugendzeit. Turniere in England und Mexiko. Für mich war das Reisen, das Kennenlernen der Kulturen das Schönste. Diese Lust auf Neues, etwas zu entdecken. Das war so komisch: In der Jugend war es für meine Mitspieler wichtig, in welche Diskos sie nach dem Spiel gingen. Ich hatte zu der Zeit eine Monatskarte des Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds (MVV; Anm. von LS) und zu Hause kein Poster von einem Schauspieler oder einer Boyband oder Ähnlichem, sondern die Karte des MVV hängen. Wenn ich einen Tag frei hatte, habe ich einen Blick auf die Karte geworfen und zum Beispiel entschieden: „Ok, ich fahre heute mit der S2 bis zur Endstation nach Petershausen und das ist mein Ausflug. Dort esse ich in einem Restaurant zu Mittag und gehe Spazieren“. So habe ich dann über Holzkirchen, Dachau, Ebersberg, Wolfratshausen und Starnberg die ganze Umgebung kennenlernen wollen. Das war für mich immer etwas Faszinierendes. Ich wollte so viel entdecken und so viel aus der Welt saugen. Und diese Einstellung versuche ich jetzt an meine Schützlinge weiterzugeben.

Ein super Schlusswort. Vielen Dank für das spannende Interview, Herr Barbuscak.

Bitte, sehr gerne.